Unser Gedächtnis lässt sich überlisten
2019 ist fast Geschichte. Wie konnte das passieren? Es ist wissenschaftlich belegt, dass für Erwachsene die Zeit gefühlt schneller vorübergeht. Wir setzen die Zeit, die wir erleben, ins Verhältnis zu der Zeit, die wir schon erlebt haben. Der Mathematiker erkennt: Für einen Erstklässler ist 1/7 seines Lebens vorbei, während der Pensionierte auf 1/65 zurückblickt. Die Stücke des Kuchens werden kleiner, je länger wir davon naschen. Hinzu kommt: Je älter wir sind, umso langweiliger ist unser Alltag. Dem mögen Sie jetzt widersprechen – ich auch – aber vieles, das uns nach unserem 30. Lebensjahr widerfährt, geschieht nicht zum ersten Mal. Wir verfügen über einen Erfahrungsschatz, der uns hilft, mit vermeintlich neuen Situationen umzugehen. Als wäre das nicht genug, spielt uns unser Gedächtnis im Erleben der Zeit einen Streich: Langweilige Phasen sind in unserer Erinnerung als Momentaufnahme gespeichert und dementsprechend kurz. Passiert viel, etwa die schönen Ferien, die im Nu vorbei sind, nehmen diese Erlebnisse viel mehr Raum ein. Das gilt für alle Altersstufen gleichermassen.
Haben wir unsere Jugend und die ersten Schritte im Erwachsenenalter hinter uns, schaltet das Rad der Zeit im Kopf ein paar Gänge hoch. Die Jahre scheinen nur so vorbeizufliegen, auch wenn wir sie mit vielen neuen Erlebnissen anreichern. Die Speicherkapazität in unserem Gedächtnis ist begrenzt – jedenfalls bei mir. Versuche ich mich daran zu erinnern, was in den letzten zwölf Monaten alles geschehen ist, stosse ich schnell an eine Grenze. Bei negativen Erlebnissen stört mich das kaum, oft sind es aber genau diese, die sich festbrennen. Auch zu diesem Phänomen gibt es viele Studien und Erklärungsversuche: Je emotionaler eine Situation empfunden wird, etwa ein Streit, umso länger und nachhaltiger bleibt sie in der Erinnerung gespeichert. Diese Erinnerung an Negatives hat auch evolutionsbiologische Vorteile. Nach der ersten Begegnung mit dem Säbelzahntiger wussten unsere Vorfahren, dass sie diesem besser fernblieben.
Haben wir unsere Jugend und die ersten Schritte im Erwachsenenalter hinter uns, schaltet das Rad der Zeit im Kopf ein paar Gänge hoch.
Was ist aber mit all den schönen, kleinen Momenten? Ein feines Abendessen mit Freunden, ein beiläufiges Kompliment oder das kurze Zulächeln einer fremden Person auf der Strasse, das uns selber zum Lächeln verführt? Diese Dinge verschönern unseren Alltag, der ja mit dem Alter zunehmend fader wird, ungemein. In der Hitze des Gefechts schenken wir ihnen wenig Aufmerksamkeit. Da uns diese Erlebnisse täglich widerfahren, sind sie für unser Gehirn Standardsituationen. Sie landen in der Registerschublade «langweilig, aber gut» in den Tiefen unserer Grosshirnrinde. Seit geraumer Zeit helfe ich meinem Gedächtnis auf die Sprünge, indem ich mir jeden Tag ein solches Erlebnis notiere. Ich konserviere meine beiläufigen, schönen Erlebnisse, damit ich auch an hektischen Tagen einen Anker werfen kann. Zum Jahresende gehe ich die kleinen Notizen, 365 an der Zahl, in Ruhe durch – um dann festzustellen, dass 2019 zwar gefühlt kürzer denn je war, in Wirklichkeit jedoch vielfältig, reichhaltig und gut.
Dieser Text erschien als Kolumne im Bödeli Info, Weber Verlag, Ausgabe Dezember 2019.