Prokrastination, das gescheite Wort für «Ich mache es später», begleitet mich wie ein treuer Freund. Besonders, wenn es um Schreibarbeiten geht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe es zu schreiben. Deswegen ist meine Langzeitbeziehung zur Prokrastination nicht unbedingt förderlich. So schwierig kann es doch nicht sein, ein paar Sätze zu Papier zu kriegen? Die Ausrede, dass ich unter Zeitdruck viel bessere Ergebnisse liefere, zieht nur bedingt. Selbstverständlich gibt es Hinweise darauf, dass ein gewisser Druck kreativer machen kann. Der Nervenkitzel, einer Deadline hinterherzujagen, pumpt Adrenalin durch meine Adern und lässt mich manchmal über mich hinauswachsen. Aber mit zunehmendem Alter wird mir der Abgabestress zuwider. Ich habe mich – mit Freude – in einem bünzligen und recht organisierten Leben eingerichtet. Die Adrenalin-Peaks führen bei mir in den seltensten Fällen zu mehr Kreativität, sondern sorgen für Missstimmung.
Da ich in den nächsten Tagen und Wochen weiterhin Texte verfassen darf, auch wenn mir die Künstliche Intelligenz inzwischen dicht an den Fersen klebt, beschliesse ich, mich dieser Problematik jetzt ein für alle Male zu stellen. Ich betreibe Grundlagen- und Ursachenforschung. Süsse Ironie: Ich tue das, während ich eigentlich diese Kolumne schreiben sollte. Prokrastination in Perfektion.
Geht es um die schreibende Zunft, merke ich, bin ich mit dem Problem nicht allein. Franz Kafka musste sich zum Schreiben zwingen, er maulte in zahlreichen Briefen über dieses Manko. Victor Hugo griff zu drastischen Mitteln, wenn ihn eine Schreibblockade ereilte: Er liess sich von seinem Personal die Kleider wegnehmen, damit er das Haus nicht verlassen konnte. Wenn es arg kalt war, hüllte er sich jeweils in eine Decke. Auch einer meiner Lieblingsautoren, Douglas Adams, kämpfte regelmässig gegen die Schreibunlust vor Abgabeterminen an. Er sah es jedoch deutlich entspannter als Hugo: «Ich liebe Deadlines! Ich mag dieses zischende Geräusch, das sie machen, wenn sie vorbeifliegen!» Diesen Satz mal vormerken: Den kann ich gut gebrauchen, wenn ich das nächste Mal eine Kolumne zu spät einreiche. Dann haben sie auf der Redaktion wenigstens was zu lachen.
Ich betreibe Grundlagen- und Ursachenforschung. Süsse Ironie: Ich tue das, während ich eigentlich diese Kolumne schreiben sollte.
Bei den meisten Texten funktioniere ich wie ChatGPT, wenn auch deutlich langsamer und zum Glück mit weniger Halluzinationen: Es kommt ein «Prompt» rein und ich rattere den Text runter. Sobald es aber persönlich wird oder ich viele Freiheiten geniesse – etwa in einer Kolumne – gerät der Schreibmotor ins Stocken. Die Aufgabe erscheint plötzlich riesig und der Berg mit dreckigem Geschirr in der Spüle, das endlich abgewaschen werden sollte, ist jetzt eine äusserst verlockende Übersprungshandlung. Sobald ein gewisses Mass an Freiheit vorhanden und ein Extraquäntchen Kreativität gewünscht ist, gerät der Schreibmotor ins Stocken und sämtliche anderen Aufgaben um mich rum erscheinen wie durch Zauberhand viel interessanter und wichtiger. Die perfekte Lösung, die meine Schreib-Prokrastination für immer beendet, finde ich auch nach Stunden der Recherche und eine mittelgrossen Frühlingsputz nicht. Immerhin weiss ich jetzt etwas mehr über die Extravaganzen einiger Schriftsteller.
Warum ich Steuererklärung, Buchhaltung und weitere administrative Aufgaben – trotz grosser Liebe zu strukturierten Ablagesystemen, übersichtlichen Klarsichtmäppchen und sauber geführten Ordnern – oft bis ganz nah an den Sankt-Nimmerleinstag hinausschiebe, ergründe ich in einer nächsten Kolumne. Vielleicht.
Dieser Text erschien am Samstag, 4. Mai 2024, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.