Das neue «Normal» ist auch nicht viel anders

Waren Sie schon im Gartencenter? Bald soll in unserem Corona-gebeutelten, an Sozialkontakten armen Alltag wieder Normalität einkehren. Oder «the new normal», wie das einige Konzerne in ihren Strategien für die schrittweise Wiederansiedlung ihrer Mitarbeitenden in den verwaisten Betriebsgebäuden modern nennen. Wir alle erleben gerade, wie Geschichte geschrieben wird. Während wir als Jugendliche im Präsenzunterricht noch die Folgen der Pest behandelt haben, werden sich die Generationen nach uns wohl mit dem Coronavirus beschäftigen. Ob die gutgemeinten Listicles und Ratgeberartikel wie «10 Dinge, die sie nach Corona unbedingt beibehalten sollten» (Punkt 1 ist sinnigerweise regelmässiges Händewaschen und allein dabei stellen sich mir die Nackenhaare auf) oder «Der How-to-Human-Ratgeber – damit du fürs Leben nach Corona vorbereitet bist» ebenfalls Einzug in die Geschichtsbücher finden werden? Ich hoffe nicht.

Ich meine: «Hallo?!» Sind wir wirklich alle schon so wohlstandsverwaist, dass uns ernsthaft ein dahergelaufenes Online-Newsportal erklären muss, was wir jetzt – nach notabene nur sieben Wochen im «sowas-wie-Lockdown» – alle wieder tun oder lassen müssen, damit unser Leben das Prädikat «normal» verdient? Rückblickend, wenn alles so läuft, wie sich das unsere Landesregierung erhofft, und die Fallzahlen nicht wieder ansteigen, ist diese Zeit auf unser gesamtes Leben betrachtet, verdammt kurz. Nehmen wir aus dieser Zeit des entschleunigten Alltags und der leeren Terminkalender etwas mit? Verändern Coronaviren unsere Gesellschaft? Der Optimist in mir hofft leise. Was für eine tolle Welt das wäre, eine Welt, in der die Menschen endlich wieder den Mut haben, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Langeweile zuzulassen. Eine Welt, in der der grenzenlose, sinnentleerte Konsum nicht an erster Stelle steht. Eine Welt, in der Solidarität mehr ist, als eine leere Worthülle und in der die sozialen Kontakte zu Freunde und Familie wertgeschätzt werden; nicht, weil diese durch äussere Umstände eingeschränkt sind, sondern weil sie wieder den Stellenwert in unserem Leben einnehmen, der ihnen zusteht.

Dann sehe ich in meiner Nachbarschaft die Unmengen an leeren Kartons, die jeweils am Donnerstagmorgen auf die Abholung warten. Amazon, Brack, Galaxus & Co. lassen grüssen. Im Gartencenter tobt der Bär und diejenigen, die noch vor wenigen Tagen am lautesten nach schärferen Corona-Massnahmen gebrüllt haben, stehen mit ihren neuerworbenen, überlebenswichtigen Blumentöpfen zuvorderst in der Schlange. In der Whatsapp-Gruppe der Corona-Hilfsgemeinschaft herrscht Totenstille und statt endlich wiedermal das Grosi im Altersheim zu besuchen, fahren wir mit dem Auto ins Grüne und bräteln dort mit Horden anderer Frischluftgierigen unseren Cervelat über dem offenen Feuer. Das haben wir uns nach diesen harten Wochen nun wirklich verdient. Der Pessimist in mir lacht hämisch.

Ich nehme mich in dem ganzen Zirkus nicht aus. Zwar war ich nicht im Gartencenter und versuche auch generell, so nachhaltig und lokal einzukaufen, wie nur möglich. Aber auch bei uns war der Päcklipöstler in den letzten Wochen mehr zu Gast als sonst und ein Ausflug in ein nahgelegenes Erholungsgebiet reizt mich – trotz meiner Veranlagung zum Stubenhocken – mehr als sonst. Der Terminkalender beginnt sich wieder langsam zu füllen und zwischen meinem Inneren Optimist und dem Pessimist ist ein lebendiges Streitgespräch über die «Zeit nach Corona» entbrannt, während sich die Klauen des neuen, normalen Alltags – fern von Kurzarbeit, Homeoffice und sozialer Isolation – mehr und mehr um meinen Hals schliessen.

Dieser Text erschien am Samstag, 2. Mai 2020 als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 17. Mai 2020 –  –  in chlütterle & chlöne | läse & schribe

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