Leitfaden: Wie geht man mit Menschen um, die trauern?

Am 7. Februar 2014 verstarb meine Mutter nach einer 12-wöchigen Leidenszeit an Lungenkrebs. Wir hatten ein sehr inniges Verhältnis – der Tod meines Vaters, ihres geliebten Ehemannes, 20 Jahre zuvor hat uns zusammengeschweisst. Ich verlor erstmal den Boden unter den Füssen – alles ging sehr schnell und war unglaublich surreal. In der Zeit während ihrer Krankheit und nach ihrem Tod, habe ich sehr viel geschrieben. Ich habe die Texte erst vor kurzem wieder gefunden. Ich habe mir schon damals überlegt, sie zu veröffentlichen. Allerdings wollte ich nicht als «Jammeri from the block» gelten und vieles, das ich niedergeschrieben habe, war – und ist bis heute – sehr persönlich. Es gibt Texte, wie diesen hier, den ich auch nach knapp fünf Jahren noch immer genau so unterschreiben und veröffentlichen würde. Ich werde diese Texte hier in loser Serie veröffentlichen, wenn mir grad wieder mal drum ist. Im besten Fall helfen sie jemandem, der eine ähnliche Situation durchlebt; und einfach mal lesen muss, dass alles an ihm normal ist. 

10. Juli 2014 – Gerade könnte ich wie Rumpelstilzchen schreiend durch die Gegend rennen. «Boden öffne Dich und verschlucke mich!» Oder all die anderen Trottel. Irgendwo (ziemlich sicher auf Twitter) hab ich mal folgendes gelesen: «Ich mag die Menschen – wirklich - wenn nur diese verdammten Individuen nicht wären!» Genau so fühle ich mich im Moment. Ich schaue mich im Spiegel an und überprüfe was mir fehlt. Arme, Beine – alles da. Sogar den Kopf trage ich auf dem Hals und nicht unter dem Arm, wie man manchmal meinen könnte. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich in diesem Kopf auch ein funktionierender Denkapparat befindet. Manchmal. Und dieser Denkapparat läuft gerade ziemlich heiss. Ja, mir fehlt etwas: Meine Eltern sind beide gestorben, mein Vater als ich 13 Jahre alt war und meine Mutter vor sechs Monaten. Ich habe keine Geschwister, ich bin Vollwaise. Ich bin 33 Jahre alt. Und im Moment gehe ich auch keiner geregelten Arbeit nach (was notabene meine eigene Entscheidung ist). So what? Ich habe eine nicht ganz einfache Zeit hinter mir, das stimmt. Doch wer entscheidet schon, was einfach ist und was nicht. Ich war auch in therapeutischer Behandlung (mein Gott, überall liest man heute, dass das schon fast zum guten Ton gehört). Zum einen weil ich Unterstützung brauchte um mit der plötzlichen, schweren Erkrankung meiner Mutter umgehen zu können, zum anderen um mein zeitweise ungesundes Arbeitsverhalten etwas genauer zu betrachten (schliesslich wurden mir ja schon längere Zeit von überall her Ratschläge zugetragen, dass ich so was mal in Betracht ziehen sollte).

Tod & Trauer: gibts nicht!

Ich bin mit meinem Töffli mit 250 km/h gegen die Wand gefahren, ja. Wie so oft im Leben ist auch bei mir alles zusammengekommen. Und ich streite nicht ab, dass ich zeitweise in einer ziemlich schlechten Verfassung war, neben mir stand. Das ist menschlich. Wäre es nicht so gewesen, hätte man sich um meine geistige Verfassung wohl mehr Sorgen machen müssen. Das ist alles noch nicht so lange her. Ein halbes Jahr ist seit dem Tod meiner Mutter vergangen. Und ja, ich bin traurig. Sie fehlt mir jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Ich gehe auch nicht davon aus, dass sich das besonders schnell ändern wird. Aber deswegen bin ich nicht krank, behindert oder meschugge. Aber die Art und Weise wie zahlreiche Menschen mit meinem Schicksal umgehen, mit mir umgehen und/oder damit umgehen, wie ich mit meinem Schicksal umgehe, bringt mich total in Rage nervt. Vielleicht liegt es daran, dass ich in einem Dorf wohne, wo jeder mit garantierter Sicherheit weiss, wie es um Dich steht, noch bevor Du es selbst herausgefunden hast. Aber grundsätzlich stelle ich immer wieder fest – gerade aufgrund meiner Lebensgeschichte – dass sich unheimlich viele Menschen mit Tod und Trauer und all den Themen, die wir doch lieber ganz aus unserem Leben streichen würden, schwer tun.

Trauer kennt keine Halbwertszeit

Unglücklicherweise hat es mich mit dem Verlust meiner Eltern früher als üblich getroffen. In beiden Fällen tragisch: Autounfall und Lungenkrebs. Dinge, die nicht zu ihrer «normalen» Zeit und im natürlichen Rahmen geschehen, lassen uns noch verwirrter zurück. Ein Verlust ist für die Betroffenen immer tragisch und schmerzhaft – ob es nun Oma ist, die mit 99 Jahren friedlich einschlummert, oder das eigene Kind, das nach einem Unfall stirbt. Die übermächtige Tabuisierung des Todes in unserer Gesellschaft nervt mich gewaltig. Der Tod ist kein Versagen, er trifft jeden. Der Tod gehört zum Leben. Und manch einen von uns ereilt er zu früh, auf tragische Art und Weise – oder beides zusammen. Es bleiben in den meisten Fällen Angehörige zurück. Traurige, verzweifelte, hilflose Angehörige. Angehörige, die sich nach einem Funken Normalität in sehnen und irgendwie schauen müssen, dass sie ihr Leben trotz des Verlustes neu organisieren, es weiterleben und -lieben lernen. Das sagt sich so einfach, stellt sich in den meisten Fällen aber schwieriger heraus, als gedacht. Es gibt keine Halbwertszeit für Trauer – das Trauern ist individuell, es kommt in Wellen. Kein Tag ist gleich. Und diese Tatsache macht trauernde Menschen für ihre Umwelt oft zur Plage. Leider. Wir wissen im Alltag schon oft genug nicht genau, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen wollen. Umso schwieriger wird es, wenn diese Menschen noch ein zusätzliches «Handicap» haben. Ein unsichtbares Brandmal, quasi. Oder eine dunkle Wolke, die über ihren Köpfen schwebt und meist für die Mitmenschen besser sichtbar ist, als für die Trauernden selbst.

Ein Leit- oder Leidfaden

Aufgrund meiner Erlebnisse in den vergangenen Wochen habe ich nun einen kleinen Leitfaden zusammengestellt, der vielleicht den einen oder anderen hier etwas helfen könnte, beim natürlichen Umgang mit Menschen, die eine geliebte Person verloren haben. Wie bereits geschrieben, die Trauer ist individuell. Ich bin mir sicher, dass nicht alles, was hier steht, auf jede und jeden zutrifft. Die Aufzählung ist sehr subjektiv und auch nicht durch irgendwelche Studien belegt. Sie beruht einzig und allein auf meiner persönlichen Erfahrung. Und ich halte sie hier fest, weil ich festgestellt habe, dass es noch immer die gleichen Dinge sind, die mich jetzt, nach dem Tod meiner Mutter, auf die Palme bringen, wie bereits beim Tod meines Vaters vor 20 Jahren. Für weitere Erfahrungen, Gegendarstellungen, Lob, Schimpf und Schande, dient die Kommentarspalte.


Grundsätzlich: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.

Fragt nicht, wie es uns geht, wenn ihr

  • die Antwort nicht hören wollt
  • keine Zeit habt
  • euch die Antwort nicht gefallen könnte
  • euch die Antwort nicht interessiert, weil ihr mit Euch selber genug zu tun habt
  • einfach nicht wisst, was ihr sonst sagen sollt.

Noch schlimmer: Fragt nicht, wie es uns geht, wenn ihr eure vermeintlich guten Ratschläge loswerden wollt. Dinge wie «man muss ein Jahr vorübergehen lassen, es braucht ein Trauerjahr» oder «du musst mal wieder raus und unter die Leute» sind absoluter Bullshit (besonders aus Mündern von Menschen, die noch keine vergleichsweise ähnliche Situation erlebt haben). Menschen, die einen Verlust erlitten haben, stehen aufgrund der Situation meist etwas wackelig im Leben. Mit euren Ratschlägen zementiert ihr bloss unser Gefühl, dass wir es alleine nicht schaffen könnten.


Warst Du heute schon auf dem Grab? Hast Du gesehen – ich habe Rosen, Nelken, Tulpen, eine Engelsfigur, etc. hingebracht!

Bravo, toll! Ganz grosses Kino. Dafür werdet ihr bestimmt einen Tag weniger im Fegefeuer schmoren. Nicht alle von uns besuchen täglich das Grab ihrer Angehörigen – wenn es denn überhaupt noch eines gibt. Und ganz sicher besuchen wir den Ort nicht mit einer Liste, auf der wir penibel notieren, was an welchem Tag zusätzlich dort deponiert wurde (und wir können auch nicht hellsehen, von wem es stammt). Bringt Blumen hin, wenn ihr das von Euch aus (von Herzen) wollt, für die Verstorbenen. Und dann: Haltet Eure Klappe!


Nur weil wir jemanden verloren haben, müsst ihr nicht jedes Mal, wenn ihr uns seht, mit uns über diese Person diskutieren. Wir kennen – trotz des ziemlich beherrschenden Gefühls nach dem Tod einer lieben Person – auch noch andere Themen. Vielfach verfolgen wir sogar das Weltgeschehen und die Wetterberichte aktiver als zu vor (Ablenkung heisst das Zauberwort). Es ist nicht verboten, ein normales Gespräch mit uns anzufangen.


Was machst Du jetzt? Ja, verdammt noch mal, wenn ich das wüsste! Neue Wohnung, neuer Partner, neuer Lebensentwurf – der Tod eines geliebten Menschen geht meistens mit (einschneidenden) Veränderungen im Leben der Angehörigen einher. Wir müssen uns zuerst mit der neuen Situation abfinden, bevor wir uns Gedanken über unser weiteres Leben machen können. Ich meine ernsthafte Gedanken. Daher nehmt es uns auch nicht übel, wenn wir heute diese Idee und Morgen schon wieder einen ganz anderen Plan verfolgen. Seht es als «work in progress» - diese Entwicklung braucht Zeit. Und vor allem: Nicht alle benötigen exakt gleich lange dafür.


Verschont uns bitte mit den Geschichten von Euren Schicksalsschlägen! Sätze wie: «Weisst Du, als meine Mutter gestorben ist…», sind so was von deplatziert. Wir müssen uns zuerst mit unserem Schicksal abfinden und wir sind absolut nicht in der Lage, uns auch noch in Euer Schicksal hineinzuversetzen. Wenn wir es wirklich wissen wollen, so fragen wir nach.


Todesfälle sind keine «Competition» – bei mir war es aber schlimmer, bei mir geschah das und das... Es ist schlimm. Und das immer. Für jeden.


Ihr dürft auch gerne zugeben, wenn ihr nicht wisst, was ihr sagen sollt. Wir wissen nämlich meistens auch nichts zu erzählen. Und das ist völlig normal. Manchmal ist gemeinsames Schweigen (oder auch Weinen, wenn es denn von Herzen kommt) die bessere Lösung. Und heilsamer.


Ihr könnt unseren Schmerz nicht tragen. Auch wenn ihr das noch so gerne wollt. Jeder Versuch, auch nur ansatzweise, lässt uns in einer noch hilfloseren Position zurück. Lasst uns den Schmerz, er gehört uns, zu uns. Und wir müssen lernen, damit zu leben. Nicht ihr. Hier noch eine Anmerkung zum Thema Mitleid: Ist für die Katz. Oder den Hund. Ihr könnt nicht mit uns mit leiden. Wir leiden. Ihr könnt höchstens «Gspüri» beweisen, mit uns fühlen und unseren Schmerz erahnen. Das ist alles. Mehr braucht es nicht.


Hört einfach zu, wenn wir reden. Und wenn ihr nicht zuhören wollt, dann fragt nicht nach, geht uns meinetwegen aus dem Weg. Aber starrt und glotzt nicht hin.


Helft uns, wenn wir Euch darum bitten (auch wenn es manchmal «durch die Blume», geschieht, fragt nach). Aber drängt Euch nicht auf. Wir benötigen genügend Kraft für uns selbst – und haben in den allerwenigsten Fällen den Nerv, Euch auch noch abzuwimmeln. Und es gibt nichts hässlicheres, als einen «angeschlagenen» Menschen zu missbrauchen, um das eigene Seelenheil aufzupolieren.


Akzeptiert, dass der Verlust uns verändert. Dass wir vielleicht jetzt anders über gewisse Themen denken, unser Leben anders angehen.


Akzeptiert auch, dass wir uns bei einer Fachperson Hilfe suchen. Das macht uns nicht automatisch zum Psychopaten – aber es macht uns auch nicht zu völlig ausgeglichenen Wesen. Eine Therapie verhindert keine plötzlichen Tränenfluten, Wutanfälle oder andere «nicht-konforme» Verhaltensweisen. Wir reagieren nicht so, weil wir uns in Behandlung befinden, sondern weil wir Menschen sind. Das wirklich Gute an einer Gesprächstherapie ist, dass unsere Aussagen als reine Aussagen angesehen und nicht gewertet werden (bei einem guten Therapeuten). Und es hilft uns auch, wenn ihr nicht jede unserer Aussagen mit Euren eigenen Vorstellungen und Gefühlen einfärbt – sondern sie einfach rational als das auffasst, was sie sind: Aussagen. Nicht jedes «ich weiss nicht mehr weiter» ist zwangsweise eine Suizid-Ankündigung

Irene Thali –  –  schrieb am 10. Juli 2014 –  –  in läse & schribe

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