Absurdität scheint derzeit Hochkonjunktur zu haben. Meine tägliche Zeitungs- und Newsportalrunde fördert immer wieder absurde Meldungen zu Tage. Was ich unter Absurditäten verstehe? Hier ein paar aktuelle Beispiele: Das Ein- beziehungsweise Ausreisedrama um die Tennis-Nummer-1 in Australien, die aktuelle Pandemie-Kommunikation unserer Behörden oder gerne auch Meldungen rund um Digitalisierungsthemen. Meist überfliege ich die Beiträge, schüttle den Kopf und weitere Gelenke, und hake das Gelesene dann ab. Bei meiner Lektüre diese Woche bin ich aber über ein Thema gestolpert, das mich nicht mehr loslässt: In einer Meldung wird über eine Elster berichtet, die sich offenbar seit mehr als einem Monat in einem Geschäft der französischen Supermarktkette E. Leclerc aufhält. Bitte was?
Ich wohne direkt unter dem Dach. Dank grosser Fensterfronten und einer grossen Balkontüre, die bei angenehmeren Temperaturen, als sie derzeit vorherrschen, gerne offensteht, kenne ich das Problem: Ein gefiederter Freund biegt im Sturzflug falsch ab und verirrt sich in der Wohnung. Natürlich ist meine Wohnung nicht ansatzweise so gross wie das Verkaufslokal des Discounters in Brignoles, vermute ich – aber verwinkelt und mit Hindernissen gespickt ist sie allemal. Den verwirrten und panischen gefiederten Eindringling wieder auf die richtige Spur zu bringen, dauert oft länger als gedacht und hinterlässt meist eine Spur der Verwüstung. Müsste ich «Vogelbefreiung aus Gebäuden» auf einer Hitliste von null bis zehn meiner Lieblingstätigkeiten im Haus einreihen, käme das «Hobby» wohl nicht über eine drei hinaus. Es würde zwar vor «Gefrierschrank abtauen» oder «Badezimmerfliesenfugen reinigen» rangieren – aber zurück zum Thema: Wenn sich ein Vogel in einem Innenraum verirrt, sorgt man dafür, dass er wieder rausfindet, oder? Das ist «common sense», dachte ich jedenfalls. Schafft man es nicht, die Sache zu bewerkstelligen, gibt es Tierärzte, Vogelschutzbund und Hobbyornithologen, die Hilfestellung leisten können. Warum man also eine Elster über einen Monat in einem Supermarkt rumflattern lässt, ist mir ein grosses Rätsel.
Müsste ich «Vogelbefreiung aus Gebäuden» auf einer Hitliste von null bis zehn meiner Lieblingstätigkeiten im Haus einreihen, käme das «Hobby» wohl nicht über eine drei hinaus. Es würde zwar vor «Gefrierschrank abtauen» oder «Badezimmerfliesenfugen reinigen» rangieren.
Lauter Fragen drehen sich in meinem Kopf und diese verstörende Meldung bringt mich fast um den Schlaf: Wie konnte der Vogel so lange im Innern des Ladens überleben? Wurde er gefüttert? Und wenn man ihn schon fütterte, warum hat man sich dann nicht auch die Mühe gemacht und sich um seine Befreiung gekümmert? Oder hat sich die «diebische Elster» etwa selbst bedient? Hat das nicht Umsatzeinbussen zur Folge? Wie sieht es mit Zusatzaufwänden fürs Putzen aus? So ein Vögelchen muss ja auch mal und wenn ich an die Hinterlassenschaften von Spatzen, Dohlen, Meisen und Co. an meinen Fensterscheiben denke, so ist das nicht unerheblich. Sowieso: Wie verträgt sich ein nervöses, kackendes und flatterndes Wesen mit den Hygienevorschriften eines Supermarkts? Und: Gibt es in Frankreich denn keine Vogelwarte Sempach? Aber ganz besonders treibt mich die Frage um, warum die Supermarktverantwortlichen den Vogel nicht einfach aus seiner misslichen Lage befreit haben? Das hört sich nach einem neuen Profi-Level in Sachen Aussitzen und Ignorieren an.
Eine Online-Petition mit über 40'000 Unterschriften, hat die Supermarkt-Verantwortlichen nun doch zum Handeln bewegt. Respekt! Jetzt soll es vorwärts gehen. «Die Direktion des Ladens hat sofort mit dem Vogelschutzbund Kontakt aufgenommen, um den Vogel zu evakuieren und seinen Schutz sicherzustellen», heisst es in der Meldung. Womit immerhin meine Frage nach der französischen Vogelwarte Sempach beantwortet wäre.
Dieser Text erschien am Samstag, 22. Januar 2022, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.