Touristischer Dichtestress in den sozialen Medien

Der Einkauf beim Grossverteiler wird mal wieder zum Spiessrutenlauf. Gerade haben zwei Reisecars ihre «Fracht» vor dem Eingang des Geschäfts entladen: Es wimmelt und wuselt überall, an ein Durchkommen ist nicht zu denken. Wenn Du es endlich bis zur Kasse geschafft hast, erwartet dich das nächste Übel. Keine freie Kasse. Das Personal ist der Verzweiflung nahe, überall wird gerufen und gewunken, die Self-Checkout-Kassen blinken in allen Farben, Fremdwährungen und Kreditkarten werden in die Höhe gestreckt und die Hälfte aller Zahlungswilligen, meist Touristen, hat es versäumt, das Obst vor dem Bezahlvorgang zu wägen. Die Zeit zieht sich hin, irgendwann schaffst du es, das Geschäft zu verlassen. Du sitzt in deinem Auto, erleichtert, dass der Spuk vorbei ist.
Endlich Ruhe. Du fährst aus dem Parkhaus. Kaum draussen, schiesst aus einer Seitenstrasse ein Mietauto und raubt dir den Vortritt – um sogleich mit 20 Kilometern pro Stunde, wild blinkend, vor dir die Strasse entlang zu irren. Deine eine Hand klammert sich ans Lenkrad, während du mit der anderen die Scheibe runterlässt und dem «Faultier» vor dir – begleitet von einer Salve höchst sympathischer berndeutscher Flüche – mit Gesten deine Wertschätzung zeigst und es danach begleitet von wildem Hupen mit einem halsbrecherischen Manöver überholst.

Wer sich gerne aufregt, dem wird das jetzt leicht gemacht, denn pünktlich mit der Sommerhitze walzt der Touristentross mit seinen unzähligen Reisecars und Mietwagen das halbe Bödeli platt. Ein verlässlicher Gradmesser für die Hochsaison ist der Empörungssturm, der durch die sozialen Medien fegt. Überall tauchen sie auf: Die Skandalbilder und -videos von AI-Karossen, die alle möglichen und unmöglichen Verkehrsdelikte begehen. Besonders falsch geparkte und irrgeleitete Fahrzeuge geben immer wieder Anlass zum Rätseln und verleiten manch «besorgten» Bürger dazu, seinem Ärger über den masslosen «Overtourism» in der Region Luft zu verschaffen. Das geht ganz praktisch, wenn man ungestört und unbeobachtet von irgendwelchen Feriengästen zu Hause auf dem Sofa seine Wutreden in die Tasten hauen kann. Am liebsten sind mir ja die Ex-Bödeler, die fernab der alten Heimat das Geschehen beobachten und sich dazu verpflichtet fühlen, alles gehässig zu kommentieren.

Mit Wehklagen über den touristischen Dichtestress in unserer Region gewinnt man bei mir keinen Blumentopf. Ja, ich nerve mich auch; wenn ich das will. Meist versuche ich aber, die Kapazität meines «Oberstüblis» gewinnbringender einzusetzen. Ich bin nicht mit allem einverstanden. Ich glaube auch nicht, dass wir ohne Tourismus alle sterben werden. Es ist wie bei vielen aktuellen Diskussionen – egal ob Flüchtlinge oder Klimakrise – nicht ganz so einfach, wie es unserem menschlichen, kurzsichtigen Naturell gelegen käme (da nehme ich mich nicht aus). Der einzige Weg, der uns weiterbringt, ist der gutschweizerische Konsens. Dazu braucht es Menschen, die sich engagieren, beispielsweise in politischen Ämtern. Diese Arbeit ist nicht immer berauschend, die Mühlen mahlen langsam, aber es lässt sich etwas bewegen. In einem Jahr wird in Interlaken gewählt, wenn sie also über das Bürgerrecht und ein bisschen freie Zeit verfügen: Das ist ihr Moment! Aus Erfahrung kann ich ihnen sagen, nervenschonender ist ein solches Engagement nicht unbedingt. Aber es ist weitaus effektiver und befriedigender, als ein wütender Kommentar im Internet.

Dieser Text erschien am Samstag, 27. Juli 2019 als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 29. Juli 2019 –  –  in chlütterle & chlöne | läse & schribe

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