Tiktok-Schock

Wir alle leben in einer Filterblase. Gut ist, wenn man sich dessen bewusst ist und sich das immer mal wieder in Erinnerung ruft. In meinen inzwischen nicht mehr täglichen Online-Eskapaden verlasse ich meine Filterblase immer wieder ganz gezielt und gebe mir Mühe, die Algorithmen auszutricksen, die versuchen, das eigene Denken zu unterwandern. Bis vor kurzem hätte ich behauptet, dass mir das recht gut gelingt. Bis mich neulich die Macht der Algorithmen komplett auf dem falschen Fuss erwischt hat. Leicht ermattet, abends auf dem Sofa. Der Tatort zieht sich in die Länge und bringt so gar nicht die erhoffte Entspannung. Zeit also, aus Langeweile, Unachtsamkeit, Dummheit – oder aus einer Kombination der dreien – «kurz» aufs Smartphone zu starren. Womit belohnen wir heute den sich windenden Geist? Die Facebook-App ist längst gelöscht, Instagram ist auch langweilig und auf Mastodon – dem Twitter-Ersatz – läuft sonntagabends eher wenig. Für seichte Unterhaltung ohne Sinn und Zweck wäre da ja noch TikTok. Das soziale Netzwerk zum Erstellen und Teilen von kurzen Videoinhalten, das vor allem Jüngere begeistert. Videos langweilen mich schnell. Ideal also, für eine kurze Flucht – denn ich schäme mich für die Unart dns «second screen», Zweitbildschirm, zu missbrauchen.

Ohne Umschweife und Vorwarnung präsentierte mir die App Totgeburten, Suizide, kranke, leidende und sterbende Menschen in Dauerschleife.

Mit TikTok werde ich nicht warm. Wohl auch, weil der Algorithmus durch mein erratisches Nutzungsverhalten nicht erkennt, was für Inhalte ich mögen könnte. Nachdem ich mehrere dutzend sinnentleerte Videos weggewischt habe, bleibe ich an einem Kurzvideo zum Thema Palliative Care hängen. Es war gut gemacht, informativ, spannend und mit Untertiteln, was nicht unerheblich ist, wenn im Wohnzimmer noch der Fernseher dudelt. Der TikTok-Algorithmus, der noch viel stärker als in anderen sozialen Netzwerken, den Nutzenden immer mehr vom gleichen zeigen möchte, muss ausser sich vor Freude gewesen sein. Endlich schaut die sich auch mal was bis zum Ende an! Was danach folgte, liess mich erstarren: Man könnte ja meinen, dass jemand, der dem Thema der Betreuung von Menschen am Lebensende Beachtung schenkt, grundsätzlich an gesellschaftlichen Themen interessiert ist. Oder vielleicht die allzu seichte Unterhaltung nicht besonders schätzt. Doch das ist für die künstliche Intelligenz zu kompliziert. TikTok unterstellt mir in unter 30 Sekunden einen äusserst morbiden Charakter. Ohne Umschweife und Vorwarnung präsentierte mir die App Totgeburten, Suizide, kranke, leidende und sterbende Menschen in Dauerschleife. Dazwischen – und das empfand ich noch als viel verstörender, denn mir ist bewusst, dass Tod und Krankheit zum Leben gehören – junge, kerngesunde Menschen, die unter Zuhilfenahme irgendwelcher verrückter Video-Filter und untermalt mit schlechter Popmusik, tanzend durchs Bild hüpfen, während sie die fünf ersten Anzeichen einer schweren Krebserkrankung runterleiern.

Die Schockstarre war so mächtig, dass ich es nicht schaffte, das Telefon wegzulegen. Was den TikTok-Algorithmus dazu anspornte, mir immer grausamere Inhalte anzuzeigen. Mit der Kinnlade auf dem Brustbein starrte ich in den Handy-Bildschirm. Nicht auszumalen, was eine solche Kaskade an verstörenden Videos mit einem psychisch labileren Menschen anstellen. Nicht auszumalen, was sich sonst noch für Inhalte auf dieser Plattform tummeln. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit, einmal falsch Abbiegen, reicht aus, und man stösst das Tor zur digitalen Hölle auf. Die TikTok-App habe ich gelöscht. Immerhin hat der kurze Zwischenfall dazu geführt, dass ich wieder mal sehr vertieft über mein Online-Verhalten nachgedacht habe. Von der Unart, während dem abendlichen TV-Programm noch ein bisschen durch irgendwelche Apps zu scrollen, bin ich vorerst geheilt.

Dieser Text erschien am Samstag, 18. März 2023, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 19. März 2023 –  –  in chlütterle & chlöne | stogle & stürfle

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