Frühling liegt in der Luft. Auch wenn es dafür zu früh ist und die Wetterapp noch mit Minustemperaturen droht. Meine Nase zeigt an, dass bereits einige Pollen rumfliegen und ein Blick in die Büsche und Sträucher bestätigt: Spriessende Knospen, erste zartgrüne Blättchen. Die Natur kann es offensichtlich kaum erwarten. Ich beschliesse, es der Natur gleichzutun und aus dem Winterschlaf aufzuwachen. «Frühlingsputz» so das Motto, aber nicht in den Schränken und Zimmern, viel wichtiger scheint mir, mich mal wieder herauszuputzen. Geistig und körperlich. Damit ich frisch und rundumerneuert die hellere, freundlichere Zeit des Jahres in Angriff nehmen kann.
Zum Glück gibt es inzwischen eine ganze Armada an digitalen Selbstoptimierungs-, Gewohnheits- und Ernährungs-Tools, da wird auch für mich etwas dabei sein. Schliesslich werde ich online von zahlreichen Werbeanzeigen aus dieser Kategorie verfolgt. Die Facebooks und Googles dieser Welt wissen lange vor mir, dass ich fällig bin. Also wehre ich mich nicht länger und klicke auf einen der heilsversprechenden Links. Ich entscheide mich für Intervallfasten: Weiterhin essen, worauf man Lust hat, eine Mahlzeit ausfallen lassen und dafür mit mehr Energie und einem geringeren Körpergewicht belohnt werden. Klingt machbar und lässt sich in meinen doch etwas gefüllten Tagesplan integrieren. Ich navigiere durch einen meterlangen Fragebogen. Nach einem ersten Zwischenhalt wird mir mitgeteilt, dass ich meine Ziele punkto Energielevel und Gewicht bis Mitte Juni erreichen kann. Passt und scheint realistisch. Wenn ich dank des Älterwerdens etwas gelernt habe, dann, dass sich Selbstoptimierungsvorhaben jeglicher Couleur nicht von heute auf morgen umsetzen lassen.
Wenn ich dank des Älterwerdens etwas gelernt habe, dann, dass sich Selbstoptimierungsvorhaben jeglicher Couleur nicht von heute auf morgen umsetzen lassen.
Mit dem Vorsatz, es anzupacken, beantworte ich ein paar weitere Fragen zu meinen Essgewohnheiten und meiner Motivation, etwas an meiner Ernährung zu ändern. Kurze Zeit später erklärt mir die App, dass ich meine Ziele bereits Mitte April erreichen werde. Wie das? Ich sehe mich hungernd wie ein Zombie durch den Frühling irren. Zum Ernährungsplan ist nun noch ein ambitionierter Sportplan hinzugekommen, der wohl nebenher nur noch einen 50%-Job erlaubt. Irgendwo habe ich angegeben, dass ich mich auch etwas mehr bewegen möchte. Ich suche also nach der Option, mein Zielvorhaben wieder auf Mitte Juni zu legen und die Sache etwas gemächlicher anzugehen. Fehlanzeige. Du wolltest Selbstoptimierung, hier hast du sie! Ohne Fleiss, kein Preis! Nur die Harten kommen in den Garten!
Meine anfängliche Motivation ist inzwischen einem flauen, beelendenden Gefühl gewichen: Ständig dieser Zwang, zu «performen». Nicht nur im Berufsalltag, nein, auch im Privaten. Weiterbildung, neues Projekt im Job, tägliche Sport- und Meditationseinheiten und daneben noch jeden Tag via App zehn Minuten Suaheli lernen – das ist das Mindestmass. Überall gilt: Höher, schneller, weiter! Sei die beste Version von dir – jetzt und jederzeit. Ich will aber keine bessere Version von mir selbst sein. Die aktuelle Version – bitz energiegeladener vielleicht – reicht mir aus. Ich atme tief durch, geniesse die wiedergewonnene Einsicht – und nehme mir vor, als Ziel für einen schwungvollen Start in den Frühling meine Resilienz gegenüber dem um sich greifenden Selbstoptimierungswahn weiter zu stärken. Und statt Sport- und Ernährungsprogramme abzuspulen, einfach diese wunderbare Jahreszeit zu geniessen.
Dieser Text erschien am Samstag, 24. Februar 2024, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.