Mein Krankenkassenkühlschrank

Seit gut zwei Jahren darf ich regelmässig Aufträge von einem Landwirtschaftsbetrieb am Rande des Emmentals entgegennehmen. Priska und Samuel züchten schottische Hochlandrinder, verarbeiten das ausgezeichnete Fleisch zu wunderbaren Spezialprodukten und sind das, was man sich heute unter innovativen Landwirten vorstellt. Wenn ich auf ihrem Hof zu Gast bin, kann es vorkommen, dass auch für mich etwas abfällt, beispielsweise eine frische Hochlandrinder-Salami. Diese liegt nun bei mir im Kühlschrank und ich kann es kaum erwarten, mir ein Rädchen – oder vielleicht auch zwei – davon zu gönnen. Ich laufe also voller Vorfreude zum Kühlschrank, das Wasser läuft mir bereits im Mund zusammen, doch dann: Die Kühlschranktür lässt sich nicht öffnen. Ich versuche es erneut. Nichts. Ich ziehe fester am Türgriff, ruckle die Tür hin und her, stütze mich an der Wand ab, um meine Kraft zu verstärken. Nichts. Die Tür bleibt zu.

Plötzlich ertönt ein Piepsen und das Display der Kühlschranktür erwacht zum Leben. «Sie haben ihren heutigen Kalorienbedarf erreicht.», steht da in leuchtend grünen Lettern auf schwarzem Hintergrund. Ich checke meine Apple-Watch am Handgelenk, die nun ebenfalls blinkt und surrt. «Irene, geh 20 Minuten flott spazieren, damit Du Dein heutiges Bewegungsziel erreichst», schlägt mir meine Uhr vor. Und: «Denk an Deine Krankenkassenprämie. Diese erhöht sich, wenn Dein BMI vom Normalwert abweicht.» Wir leben im Jahr 2025, daran dass verdächtige Sozialhilfebezüger tagein, tagaus – sogar mit Drohnen – überwacht werden, haben wir uns inzwischen gewöhnt. Betrifft ja nicht so wahnsinnig viele. Der Segen der modernen Technologie soll schliesslich gewinnbringend für alle eingesetzt werden. Damit, dass dank eines Vorstosses einer CVP-Nationalrätin im Jahr 2018 unsere Gesundheitsdaten nun direkt an die Krankenkassen geliefert werden, tun wir uns allerdings noch etwas schwer. Aber was solls, schliesslich hilft uns das, einen aktiven Lebensstil zu pflegen, wir sind unserer Traumfigur ein Stück näher, sehen unverschämt gut aus und sparen dabei erst noch Geld. Eine tolle Sache!

Sie finden ich übertreibe? Technisch ist alles oben Beschriebene bereits heute möglich. Und ja, in ihrem Vorstoss zielt Ruth Humbel nicht darauf ab, dass alle automatisch ihre Gesundheitsdaten mit ihrem Kassenanbieter teilen müssen. Jeder soll für sich selber entscheiden, ob er das will und ein entsprechendes Versicherungsmodell wählen können. Nur, wer bezahlt dann den Prämienausfall, der dank dieser «Belohnungen» entsteht? Diejenigen, die ihre Daten nicht gegen Belohnungen mit der Krankenkasse teilen wollen oder können. Ich will gar nicht erst damit anfangen, dass unser Krankenversicherungssystem auf dem Solidaritätsprinzip beruht und dass ein grosser Teil ebendieser Solidarität mit einem solchen Vorstoss ausgehebelt wird.

Mich treiben die Auswüchse, die neue Technologien in den Hirnwindungen unserer Gesandten in Bern verursachen, in den Wahnsinn. Natürlich können uns Wearables helfen, einen aktiveren Lebensstil zu pflegen. Deswegen aber Hinz und Kunz Zugriff auf meine sensiblen Gesundheitsdaten gewähren? Nein danke. Zudem sind Gesundheitsdaten sehr individuell, ich will mich nicht von einer Statistik in ein Schema pressen lassen. Die ganzen Diskussionen um die Verwendung von persönlichen Daten unter dem Deckmäntelchen der «Optimierung» – egal ob es dabei um Kosten oder unseren Lebensstil geht – riechen mir zu stark nach einem «Social Scoring» wie im Überwachungsstaat China. Bevor wir in der Schweiz unsere Daten für irgendwelche Services staatlicher, staatsnaher oder staatlich regulierter Betriebe freigeben, möchte ich zuerst über den Datenschutz und den Umgang mit meinen sensiblen Daten ganz allgemein reden.

Dieser Text erschien am Samstag, 20. Oktober 2018 als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 23. Oktober 2018 –  –  in chlütterle & chlöne | läse & schribe

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