I wett i hett e Vogel

Mein ornithologisches Interesse scheint proportional mit der Anzahl Lebensjahren zu steigen. Vogelsichtungen – sei es nun zu Hause auf dem Balkon oder unterwegs – bereiten mir Freude und manchmal begebe ich mich sogar in die freie Wildbahn mit dem einzigen Ziel, gefiederte Freunde zu beobachten. Eine Alterserscheinung – aber keine schlechte, wie mir scheint, die Studienlage dazu sagt, dass Vogelbeobachtungen die Zufriedenheit steigern und dabei helfen können, geistig und körperlich aktiv zu bleiben. Ich habe zudem das grosse Glück, dass mein Balkon ein beliebtes Anflugziel diverser heimischer Vogelarten ist – obwohl ich mitten im Zentrum von Interlaken residiere. Spatzen, Schwalben, Meisen, Tauben: Alle kommen sie des Öfteren vorbeigeflogen. Im Winter sind die Alpendohlen regelmässig zu Gast und nutzen unser Flachdach gerne als Badeanstalt.

Meine wachsende Begeisterung für Vögel hat mich dazu verleitet, wieder mal etwas in diesem Internet zu bestellen: Ein Vogelhaus mit Webcam – die Kamera ist mit einer Datenbank verbunden und dank einer cleveren KI im Hintergrund, werden die Vögel, die die Futterstelle anfliegen, erkannt. Sobald ein Vogel das Häuschen besucht, wird die Kamera aktiviert. Via App erhält man eine Benachrichtigung, inklusive Foto und Filmchen des Fressbesuchs. Der «Birdbuddy» verfügt sogar über ein Solardach und lädt sich bei schönem Wetter selbstständig auf. Mit einem Klick landete das Hightech-Vogelhaus im Warenkorb und ich malte mir bereits aus, wie viele Vögelchen den neuen, videoüberwachten Gourmettempel auf meinem Balkon besuchen werden.

Bis der «Birdbuddy» in meinem Briefkasten landete, verging fast ein Jahr. Ich hatte die Spontanbestellung schon so gut wie vergessen, bis ich Ende September daran erinnert wurde, dass in Kürze ein grösseres Paket bei mir abgegeben wird. Ich besorgte umgehend eine erste Ladung Vogelfutter und liess alle gefiederten Freunde, die in der Zwischenzeit auf meinem Balkon vorbeischauten, wissen, dass sie hier in Kürze eine topmoderne Futterstelle empfangen wird. Voller Vorfreude baute ich das Häuschen zusammen, testete die Kamera und suchte akribisch den besten Platz auf meinem Balkon. Da hängt er nun, der quietschgelbe «Birdbuddy», gefüllt mit einer gesunden Mischung aus Sonnenblumenkernen und weiteren Leckereien, mit genügend WLAN-Empfang und Sonneneinstrahlung für den Solarbetrieb, sowie mit direktem Blick auf das Jungfraumassiv. Nicht schlecht! Ich konnte es kaum erwarten, dass mich die zum Vogelhaus gehörende App über den ersten Besuch im «Birdbuddy Downtown Interlaken» informiert.

Ich warte immer noch. Wo vorher tägliches Flügelschlagen und Gezwitscher zu hören war, bleibt es still. Es ist wie verhext. Seit das Vogelhäuschen hängt, hat sich – ausser einem Spatzen, der auf halbem Weg eine Kehrtwendung einlegte – kein einziger Vogel mehr auf meinen Balkon verflogen. Ganz verlassen hängt er da, mein «Birdbuddy», zwar mit Jungfrau-Blick, aber einsam im lauen Herbstwind wippend. Ob es die doch eher schrille Farbgebung ist, oder ob die gefiederten Freunde gegen den Überwachungsstaat rebellieren – ich weiss es nicht. Ich habe noch einen leisen Funken Hoffnung, dass die kältere Jahreszeit und das schwindende Futterangebot doch noch ein paar Gäste dazu bewegt, sich bei mir auf dem Balkon umzusehen. Ansonsten ist der einzige Nutzen, der mir mein «Birdbuddy» bringt, dass ich via App aus der Ferne den heimischen Bergblick geniessen kann, wenn ich die Kameraeinstellung des Vogelhäuschens teste…

Dieser Text erschien am Samstag, 14. Oktober 2023, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 13. November 2023 –  –  in läse & schribe | stogle & stürfle

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