«Go big or go home»

Die Investoren für das Des-Alpes-Areal haben sich zurückgezogen. Schade, aber nicht ganz überraschend, wenn man bedenkt, dass ein Virus momentan die gesamte Welt in Schach hält. Meine Touristiker-Seele würde sich nicht gegen ein zusätzliches, gehobenes Mittelklasse-Hotel auf dem Bödeli wehren. Gerade das Kongressgeschäft kann davon profitieren und mit einem starken Partner – sprich einer bekannten Hotelkette – dürften wohl auch neue Gästesegmente (oder altbekannte) Interlaken entdecken. Allerdings macht das ein Hotel alleine noch nicht aus. Die gesamte Marktausrichtung einer Destination zu verändern, kann nicht das Hauptziel eines Hotelneubaus auf dem Des-Alpes-Areal sein. Neue Arbeitsplätze zu schaffen und Aufträge für das regionale Gewerbe zu generieren, dagegen schon.

In Anbetracht der globalen Lage und mit einem Blick zurück ins Jahr 2014, als die Des-Alpes-Frage die Bevölkerung spaltete, wie kaum eine andere (von der Gemeindefusion 2009 abgesehen), ist jetzt der richtige Moment, um erneut zu prüfen, ob das Pferd, dass man mit dem Versuch eines Hotelprojektes im Zentrum von Interlaken gesattelt hat, nur vorübergehend sediert ist oder doch tot am Strassenrand liegt. Alle guten Ideen und alle bisher geleistete Arbeit über Bord zu werfen, ist sicherlich nicht die Lösung. Doch die momentane Zeit – so schwierig und hart sie besonders den Tourismus als Lebensnerv unserer Region trifft – verschafft uns, wenn auch ungewollt, eine Atempause. Zwar ist die Luft dünn, die Zeit drängt, aber unter Druck entstehen Diamanten.

Auch auf dem harten Boden der Tatsachen wachsen neue Ideen. «Go big or go home», pflegt man in den USA zu sagen. Was kann schiefgehen, wenn wir uns ein Stück der DNA des amerikanischen Gästesegments, das wir mit dem Hotelneubau gerne zurückgewinnen würden, zu eigen machen? Wenn wir den gewohnten Pfad «Hotelkomplex» kurz verlassen und über Optionen nachdenken – vielleicht bringen uns ja noch andere Ideen die gewünschten Arbeitsplätze und Geschäft für verschiedene Handwerker und Dienstleister? Selbstverständlich wurde das bereits getan. Dieses Argument zählt für mich jedoch nicht. Die Zeiten ändern sich. Sehr schnell, wie wir gerade deutlich und schmerzhalft erfahren. Wir müssen agil bleiben – die Strategie, zusätzliche Hotelbetten zu schaffen, weil durch die Krise einige wegfallen könnten, scheint mir vor dem gegenwärtigen globalen Hintergrund «äs Mü» zu kurzfristig gedacht.

Wir haben die letzte Baulandreserve im Zentrum von Interlaken zu vergeben. Das mag sich nicht nach viel anhören, für die Zukunft unseres Dorfes ist dieser Flecken Land aber die halbe Welt. Auch wenn ein Projekt vorliegt, dass ich als unterstützungswürdig erachte, neue Investoren dürften momentan schwer zu finden sein. Jetzt sind neue Strategien gefragt, die auch die Frage beantworten müssen, wie wir mit den gegenwärtigen globalen Entwicklungen in unserer Tourismusregion umgehen wollen. Schliesslich soll dieser Ort auch in Zukunft lebenswert bleiben – mit oder ohne Tourismus. Ich wünsche mir eine offene Diskussion, die idealerweise nicht hinter verschlossenen Türen geführt wird. Pandemien, Klimawandel – das geht alles nicht einfach so vorbei, auch wenn wir die Luft anhalten und die Augen schliessen. Wir müssen uns dieser Herausforderung stellen. Das heisst nicht, dass in absehbarer Zukunft kein Hotel das Des-Alpes-Areal schmücken soll – eine erneute vertieftere Kompass-Kalibrierung erachte ich aber als unumgänglich.

Dieser Text erschien am Samstag, 11. Juli 2020 als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 18. Juli 2020 –  –  in chlütterle & chlöne | läse & schribe

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