Einfach mal die Fresse halten

Menschliches Denken und Handeln treibt oft komische Blüten. Gerade das Coronavirus macht das deutlich. Ob Klopapier-Hamsterkäufe, Instruktionsvideos zum richtigen Händewaschen oder die absurde Diskussion rund um die Maskenpflicht: Was die aktuelle Weltlage mit unserer Gesellschaft anstellt, lässt einem zeitweise ob der Spezies Mensch schier verzweifeln. Eine weltweite Pandemie gekoppelt mit der heutigen Mobilität und den veränderten, schnellen, unerschöpflichen Informationsflüssen, Internet sei Dank, sowie all den technischen Alltagshelfern und Apps für jedes Problem und Problemchen führt bei vielen zu einer kompletten Überhitzung der Hirnwindungen. Alufolie, straff um den Kopf gewickelt, mag dabei ein probates Mittel zur Linderung der Phantomschmerzen in den oberen Körperregionen sein. Das hilft aber niemandem weiter.

Unser Alltag wurde in den vergangenen Jahren durch technologische Fortschritte zwar oft wesentlich leichter, aber leider auch um ein Vielfaches komplexer. Zudem kriegen wir viel mehr mit, was um uns herum passiert. Damit meine ich nicht tagesaktuelle Geschehnisse in Meiringen oder Leissigen, sondern Ereignisse, die Menschen am anderen Ende der Welt bewegen und die wir oftmals gar nicht verstehen können, da uns der historische, gesellschaftliche oder kulturelle Kontext fehlt. Gepaart mit dem durch die Nutzung sozialer Netzwerke über Jahre antrainierten Reflex, jede einzelne Aktualität sofort kommentieren oder ungeprüft zu verbreiten, führt das zu toxischen Auswüchsen und gesellschaftlichen Spaltungen sondergleichen. Wir streiten uns um die Benennung einer Süssspeise, als gäbe es kein Morgen mehr und der Algorithmus, der besser um unsere Vorlieben weiss als wir selbst, füttert uns brav mit neuen mit Aussagen, Artikeln und Statements, die unser an die Stirn gezimmertes Feindbild weiter zementieren.

Was die aktuelle Weltlage mit unserer Gesellschaft anstellt, lässt einem zeitweise ob der Spezies Mensch schier verzweifeln.

Was fehlt: Eine App für den gesunden Menschenverstand, die uns hilft, mit den Widrigkeiten der neuen, schnellen Welt zurecht zu kommen. Ich wünsche mir eine Siri für mehr Selbstreflexion im Alltag. Eine App, der laut zu piepsen, brummen und leuchten beginnt, wenn wir wieder mal in die durch unsere eigenen Haltungen und Gedanken ausgehobene Fallgrube stolpern. Ein digitaler Assistent, der uns Facebook-Posts und Kommentare erst teilen und veröffentlichen lässt, wenn wir uns die Zeit genommen haben, unsere eigenen Ansichten zu prüfen und gegebenenfalls zu revidieren. Ein Knigge-Helferlein, dass uns nett, aber bestimmt darauf hinweist, dass «linksgrün versiffter Gutmensch» oder «rechte Sau» nicht gängige Formeln sind, um das Gegenüber anzusprechen. Nicht auf Twitter, Facebook oder in den Kommentarspalten einer Zeitung und auch nicht, wenn das Gegenüber in den eigenen Augen tatsächlich ein Vollidiot ist. Vielleicht schlägt uns die digitale Servicestelle auch mal vor, einen Waldspaziergang zu unternehmen, bevor wir unserer Empörung über ein bestimmtes Thema auf allen Kanälen Luft machen. Oder sie rät uns, einfach mal die Fresse zu halten.

Vielleicht reicht es aber auch aus, wenn wir uns regelmässig bewusst Zeit nehmen, um über aktuelle Sachverhalte nachzudenken, fernab von Google-Suchresultaten und auf Facebook geteilten Neuigkeiten. Wenn wir grosszügiger werden – im Umgang mit anderen aber auch im Umgang mit uns selber. Es ist in Ordnung, wenn wir nicht auf alles sofort und jederzeit eine passende Antwort finden, es ist gut, können wir nicht auf Anhieb alles verstehen und erfassen und es zeugt von wahrer Grosszügigkeit, wenn man seine Meinung auch mal revidieren und dazu stehen kann – oder eben: einfach mal die Fresse hält.

Hesch öppis z'mälde?



© Irene Thali | Interlaken | Realisation: fremdefeder.ch