«D'Nase»

Kennen Sie das Lied «D’Nase» von Mani Matter? Die tragisch-komische Geschichte eines Mannes mit zu langer Nase, der nach einer Kürzung ebendieser, sein Leben beim Überqueren der Strasse lässt, da ihm seine neue, kurze Nase nicht mehr die Richtung weist? Meine Nase beschäftigte mich die letzten Wochen über alle Massen. Nicht wie von Mani Matter besungen aus ästhetischen Gründen, es war die Sinnesleistung meines Zinkens, die für ein Gefühlschaos sorgte. Bei mir läuft fast alles über den Geruchssinn. Während Musik oder visuelle Reize brauchen, um das Kopfkino in Gang zu setzen, reicht bei mir der Hauch eines vertrauten Dufts. In meinem Kopf lagert ein riesiges Archiv an Parfüms, Gerüchen – gute wie schlechte – und weiterer Duftnoten. Auch in meinem Freundeskreis wird die überragende Fähigkeit meines Kolbens geschätzt, sei es beim Kochen, bei der Wahl von Parfums oder beim Detektieren übler Geruchsquellen. Ein Beispiel: Ich erkenne zuverlässig am Geruch, ob ein Hotelzimmer von Bettwanzen bewohnt ist. Auf Reisen hat mich das schon oft vor Schlimmerem bewahrt.

Ich erkenne zuverlässig am Geruch, ob ein Hotelzimmer von Bettwanzen bewohnt ist. Auf Reisen hat mich das schon oft vor Schlimmerem bewahrt.

Vor ein paar Wochen hat es mich trotz aller Vorsicht erwischt: Auf dem Corona-Teststreifen prangten zwei dicke, rote Striche. Fieber, Husten und eine quälende Müdigkeit schalteten mich für ein paar Tage aus. Ich wähnte mich bereits über den Berg, als ich eines Morgens aufwachte und mich das seltsame Gefühl beschlich, dass etwas nicht stimmte. Aber was? Auf einmal war ich hellwach. Putzessig! Es roch nach Putzessig. Eine frühmorgendliche Reinigungsaktion in unserem Haushalt konnte ausgeschlossen werden. Ein Schluck Kaffee und ein Bissen Marmeladebrot brachten Klarheit: Das Heissgetränk verwandelte sich in meinem Mund in einer Art bitteres Flüssiggasgemisch und das «Gonfibrot» brachte mit einer penetranten Essignote im Geruch wie im Abgang meinen Magen in Wallung. Es folgten düstere Tage. Die üblen Phantom-Gerüche versetzten meinen Körper in einen permanenten Alarmzustand. Ich war richtig froh, als der Spuk vorbei war und ich statt Essig in allen Variationen gar nichts mehr roch und auch nichts mehr schmeckte. Jede und jeder kennt das Gefühl, wenn einem bei einer Erkältung für ein paar Tage Geruchs- und Geschmackssinn im Stich lassen. Das hier war aber eine ganz andere Nummer: Es fühlte sich an, als wäre die Verbindung zwischen meiner Nase und meinem Gehirn auf ewig durchtrennt. Was, wenn das so bleibt? Die Art und Weise, wie ich meine Umgebung wahrnahm, veränderte sich komplett – nicht auf eine gute Art und Weise. So sehr ich auch versuchte, etwas über meine Nase wahrzunehmen: Nichts. Tagelang. Auf die erste Verwirrung folgte Panik, danach kam die Resignation. Die fade, geruchs- und geschmacklose Welt drückte auf meine Stimmung. Ich versuchte mich, so gut es ging, mit der Situation zu arrangieren. Immerhin schien das Ziel, ein paar Kilos zu verlieren, so um einiges leichter erreichbar. Bis ich eines Abends plötzlich und unverhofft wieder den entfernten Geruch des Abendessens, das im Ofen brutzelte, wahrnahm. Ich hätte vor Freude losheulen können!

Ich hatte Glück. Meine Sinneswahrnehmungen kehren wieder zurück, langsam zwar, aber beständig. Das Erlebte hat mich nachhaltig verstört und ich möchte diese Erfahrung kein zweites Mal machen. Ich schenke meinem Zinken dafür endlich die Beachtung, die er verdient, und ich weiss seine Leistungen zu würdigen. Deshalb hülle ich ihn in Innenräumen mit stickiger Luft und mehreren Menschen wieder regelmässig in das dicke Vlies einer FFP2-Maske.

Dieser Text erschien am Samstag, 29. Oktober 2022, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 30. Oktober 2022 –  –  in läse & schribe | stogle & stürfle

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