Man hört es leider viel zu oft: «Es sterben doch eh nur die Alten und die Risikogruppen. Ohne Vorerkrankung stirbt doch keiner.»

TL;DR

Die Aussage «es sterben ja nur die in den Risikogruppen» kotzt mich an (nicht nur als Teil einer Risikogruppe). Menschen, die das Gefühl haben, es betreffe nur andere, massen sich an, über das Leben dieser anderen zu entscheiden. «Nur» rund ein Drittel der in der Schweiz lebenden Bevölkerung hat ein erhöhtes Risiko, an Covid-19 zu sterben; ein Drittel, jeder Dritte! Und was mir statistisch insbesondere den Hut lüpft, ist dieses «ein 80-jähriger hat sein Leben ja hinter sich, der kann ja jetzt auch mal abtreten, war ja ursprünglich eh nur für 74 Jahre gebucht.» Das Unwissen beziehungsweise die Ignoranz, die sich hier zeigen, sind bei vielen nachvollziehbar. Das ist etwas, womit man sich nie beschäftigen musste, wenn man nicht Versicherungsmathematik für Lebens- und Rentenversicherungen gelernt hat. Bei Lehrenden an Universitäten ist dieses Unwissen aber primär ein Zeichen wissenschaftlicher Inkompetenz (und bei Politikern ein Zeichen populistischer Inkompetenz). Wenn diese Menschen nicht in der Lage sind, Sterbetafeln zu recherchieren und die dahinterliegende Logik zu verstehen, sollten sie nicht lehren … insbesondere nicht bei Studiengängen, für die Statistik relevant ist (wie zum Beispiel VWL, BWL, Medizin, …). Losgelöst von der Statistik der Sterbenden befinden wir uns in einer Pandemie. Die Entscheidung, ein Risiko zu akzeptieren, trifft man nie nur für sich alleine oder eine Risikogruppe. Man kann diese Gruppen (ein verfluchtes Drittel!) nicht vom Rest der Gesellschaft trennen. Eine Quarantäne für diese Personen ohne Kontakt zu anderen ist schlicht unmöglich. Wer Pflegt die vulnerablen Alten und Kranken? Wer behandelt die Krebspatienten? Wohin schickt man den Elternteil mit Diabetes? Und wer kauft für die 2.7 Millionen Menschen ein?

Risikogruppen sterben eh

Jo, stimmt, die Betroffenen in Risikogruppen sterben eh. Diejenigen, die nicht Teil einer Risikogruppe sind, übrigens auch. Jeder stirbt früher oder später. Eine Diabetikerin kann zum Beispiel recht lange leben … ebenso wie jemand ohne Diabetes. Wenn man sich anschaut, wer Teil dieser Risikogruppen ist, stellt man schnell fest, dass das mehr sind, als man denken würde. Da sind die «Alten» (1.63 Millionen oder 18.7% der Bevölkerung laut BfS) oder die jüngeren zwischen 15 und 65 die mindestens eine «Vorerkrankung» haben (1.1 Millionen oder 8% der Bevölkerung laut Schweizerischem Gesundheitsobservatorium Obsan; Zahlen von 2017). Die bei 15-65-jährigen betrachteten «Vorerkrankungen» sind:
  • Bluthochdruck
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • Diabetes
  • Chronische Atemwegserkrankungen
  • Krebs
Dann gibt es da aber noch die folgenden Risikofaktoren, die nicht in der Statistik von Obsan aufgeführt sind:
  • Erkrankungen und Therapien, die das Immunsystem schwächen
  • Adipositas Grad III (morbid, BMI ≥ 40 kg/m2)
Wir reden also in Summe von einem knappen Drittel der Schweizer Bevölkerung, die sowieso sterben würden und deren Sicherheit deswegen weniger relevant ist, als die «wirtschaftliche Sicherheit» aller. Sie wissen mit hoher Wahrscheinlichkeit, ob Sie zum Beispiel Krebs, chronische Atemwegserkrankungen, Adipositas Grad III oder eine Erkrankung beziehungsweise Therapie, die das Immunsystem schwächt, haben. Bei Bluthochdruck, Herz-Kreislauferkrankungen oder einer angehenden Diabetes sieht das anders aus. Einige von uns wissen also gar nicht, dass sie Teil einer Risikogruppe sind.

Statistisch falsch (und zynisch)

Warum ist es statistisch falsch (und zynisch) davon zu reden, dass die Risikogruppe «alte Menschen» ja eh sterben würden. Zunächst: Natürlich sterben alte Menschen ja eh … junge übrigens auch. Aber auch wenn ein 2020 75-jähriger Mann bei Geburt (1945) eine Lebenserwartung von etwas über 75 Jahren hatte, hatte er im Jahr 2020 eine Restlebenserwartung von 13 Jahren, würde also rund 88 Jahre alt werden. Für 75-jährige Frauen, die bei Geburt eine Lebenserwartung von knapp 82 Jahren gehabt haben, ist diese im Jahr 2020 90.5 Jahre. Sie hat also noch 15 Jahre vor sich. Für 80-jährige ist das noch krasser: Männer wären 2020 planmässig schon seit sechs Jahren tot (weil ihre Lebenserwartung bei Geburt 74 war), Frauen würden bereits mit 80 (also im Jahr 2020) sterben. Da beide Geschlechter es aber geschafft haben, in den ersten 80 Jahren ihres Lebens nicht zu sterben, haben Männer statistisch noch neun Jahre vor sich, Frauen sogar elf. Wer also sagt, dass alte Menschen ja eh sterben, sagt im Wesentlichen, dass es kein Problem ist, wenn man diesen Menschen zehn Jahre ihres Lebens raubt. Die statistische Lebenserwartung einzelner Altersgruppen im Jahr 2020:
Alter ('20) Geschlecht Lebenserwartung Sterberate '20
0 m 91.4 Jahre 0.30%, einer von 333
0 w 94.0 Jahre 0.32%, eine von 313
39 w 91.3 Jahre 0.06%, eine von 1'666
47 m 88.3 Jahre 0.14%, einer von 714
75 m 88.0 Jahre 2.33%, einer von 43
75 w 90.5 Jahre 1.35%, eine von 74
80 m 89.3 Jahre 4.19%, einer von 24
80 w 91.3 Jahre 2.65%, eine von 38
85 m 91.2 Jahre 8.61%, einer von zwölf
85 w 92.7 Jahre 5.68%, eine von 18
90 m 94.0 Jahre 16.48%, einer von sechs
90 w 95.0 Jahre 11.93%, eine von acht
Wenn wir also über die Lebenserwartung der Menschen sprechen, dürfen wir die nicht in Relation zur statistischen Lebenserwartung zum Zeitpunkt ihrer Geburt setzen (oder dem statistischen Mittel: ca. 86 Jahre für Frauen und 82 für Männer), sondern müssen uns immer die Jahre anschauen, die sie aktuell noch vor sich hätten. (Die Zahlen sind aus den Kohortensterbetafeln für die Schweiz des BfS)

Aber das ist doch nicht logisch

Ähm, ja. Ähnlich habe ich reagiert, als mein Prof in Versicherungsmathematik versucht hat, mir das Konzept der «Sterbetafeln» zu erklären. Er war aber erstaunlich geduldig und hat uns letztendlich soweit gebracht, den Unterschied zwischen «spontan nachvollziehbar» und «logisch» zu verstehen. Die oben beschriebenen Zusammenhänge sind komplett logisch. Nehmen wir einfach mal mich als Beispiel: Als ich 1973 geboren wurde, hatte ich eine statistische Lebenserwartung von 83.62 Jahren, was heisst, dass alle 1973 geborenen männlichen Kinder durchschnittlich knapp 84 Jahre alt werden sollten. Leider gab es einige, die den Schnitt nach unten rissen, unter anderem weil sie bereits als Säugling starben. Da ich als Individuum nicht der Säuglingssterblichkeit (das waren 1973 1.6%, heutzutage zum Glück nur noch rund 0.3%) erlegen bin, war meine Lebenserwartung bereits 1974 bei 85 Jahren. Über die Zeit habe ich es immer wieder geschafft, nicht zu sterben. Ich gehörte nicht zu den rund 2%, die in den ersten zehn Lebensjahren starben, weswegen ich mit zehn bereits eine Lebenserwartung von 85.5 Jahren hatte. Und als ich mit 30 – im Gegensatz zu rund 3.7% meiner männlichen Altersgenossen – immer noch gelebt habe, war meine Lebenserwartung wieder um ein Jahr gestiegen: 86.6 Jahre. 2020 (mit 47 Jahren) war meine Lebenserwartung 87.3 Jahre, weil ich zu meinem Glück nicht zu den 5% meiner Altersgenossen gehörte, die bereits vor ihrem 47sten Geburtstag starben (rund einer von 20 … irgendwie erschreckend). Man könnte es also wie folgt zusammenfassen: Wer später stirbt, wird länger älter.

Jaha, aber alte Menschen wollen doch sterben

Erstens: Nein! Wie kommt man auf so einen generalisierenden Unfug? Matt sagt zwar: «Früher sind Menschen im Schnitt nur vierzig Jahre alt geworden. Alles über 40 sind unsere Bonusjahre.» Das ist eine gute Einstellung, die ich weitgehend teilen kann. Dennoch will ich doch nicht mit 48 sterben! Zweitens: Wenn Menschen sich entscheiden, nach 80 Jahren zu sagen «Es war super, aber jetzt wäre dann so langsam mal gut», dann ist das ihr gutes Recht und – je nach gesundheitlichem Zustand – nachvollziehbar. Aber ebenso, wie man diese Entscheidung anerkennen sollte, sollte man auch anerkennen, dass andere sagen «Fuck, ich bin fit, habe 45 Jahre in meine Altersvorsorge einbezahlt und will noch was vom Leben und meinem Ersparten haben.» Es wäre also eine Entscheidung, die nicht die Gesellschaft (und ganz sicher nicht Betriebswirtschaftler!) treffen sollten, sondern die Betroffenen. Die Wirtschaftsdarwinisten werden ihre Meinung übrigens sehr wahrscheinlich ändern, sobald sie damit konfrontiert werden, ihren hart erarbeiteten Alterswohlstand zum Wohle der Gesellschaft aufzugeben (im Sinne von: wenn sie von ihren Nachfolgern höflich aufgefordert werden, jetzt aber mal endlich zu sterben). Viele dieser Pfosten sind ja noch nicht mal heute bereit, Mehrkosten zur Prävention einer Klimakatastrophe auf sich zu nehmen. Erschwerend kommt hinzu, dass in einer Pandemie auch der sterbewillige 90-jährige diese Entscheidung über den Tod durch Corona nicht für sich alleine fällt. Auch wenn das Leben gut zu ihm war und er Weihnachten lieber mit der Familie verbringen will und damit das Risiko einer Ansteckung bewusst auf sich nehmen würde: Diese Entscheidung wird immer auch für den Rest der Familie, Pflegepersonal, die sozialen Kontakte, deren Familien … also für die Gesellschaft getroffen. Was ist denn, wenn der 90-jährige erkrankt, überlebt, aber weiss, dass er seinen Enkel angesteckt hat, der jetzt mit 40 an Corona gestorben ist? War es das Wert? Diese Überlegung ist übrigens nicht erst mit 90 relevant. Auch mit 25 muss man sich fragen, ob neben den Folgen der Krankheit auch die Folgen eines Ansteckens anderer wirklich akzeptabel sind. Vielleicht überstehe ich die Krankheit als gesunde 25-jährige gut, aber mein Partner / meine Partnerin mit 28 und einer Vorerkrankung stirbt; oder die Eltern / Grosseltern. Auch wenn ein mögliches Erbe hier Motivationshilfe sein kann: Will ich das verantworten? Und was ist, wenn der Schosshund der Eltern alles erbt?

Aber … aber … und jetzt?

In einer Pandemie müssen wir Entscheidungen treffen, die nicht nur uns betreffen, sondern alle. Ähnlich wie wir uns (hoffentlich) an Geschwindigkeitsbeschränkungen vor Kindergärten und Schulen halten – nicht (nur) weil wir unser Auto vor Schäden und Verschmutzung schützen wollen, sondern auch weil das Überfahren von Kindern kacke ist. Wenn ich krank werde, kann ich für mich entscheiden, ob ich behandelt werden will. Ich kann aber nicht nur für mich entscheiden, ob ich mich – und damit alle meine Kontakte – dem Risiko einer Infektion und Erkrankung aussetzen will. Das ist im Wortsinne asozial. Und das gilt leider unabhängig davon, ob ich jung, alt, gesund oder Teil einer Risikogruppe bin. Es ist wohl essentiell, zu verstehen, dass ich mich (noch) gesund fühlen und dennoch bereits andere anstecken kann. Mit Vorsichtsmassnahmen (zum Schutz der anderen) zu beginnen, sobald ich merke, dass ich krank bin, ist zu spät und potentiell tödlich. Drum: Bitte halten Sie sich an die Grundregeln:
  • Möglichst wenige Kontakte
  • Abstand
  • Masken
  • Hände waschen (bitte auch weiterhin nach der Pandemie)
Wenn wir dies einhalten, haben wir eine Chance mit möglichst wenig Kollateralschaden – wie Tote, Langzeitkranke, wirtschaftliche Probleme, Insolvenzen, etc. – durch die Pandemie zu kommen und zurück in ein «normales» Leben als Gesellschaft zu finden. Je weniger wir das machen, umso wahrscheinlicher werden härtere Massnahmen. Wenn diese harten Massnahmen nötig sind, um die Wellen zu brechen: Nehmen sie diese an und halten sich daran. Danach kommt wieder eine Zeit mit geringeren Einschränkungen, die es der Wirtschaft (und unseren Seelen) erlaubt, zu heilen. Ignorieren wir diese harten Massnahmen, dauert der Rückweg zu weniger rigorosen Einschränkungen einfach länger … und auf diesem Rückweg sterben mehr Menschen.