Der Digitalisierungswahn?

Digitalisierung – dieses Schlagwort dominiert politische Debatten, Wirtschaftsveranstaltungen, Zeitungsartikel und abendliche Networking-Gespräche – auch im Berner Oberland. Die Lösung für alle Herausforderungen in unserer Region? Im Frühjahr vermeldete der Bundesrat euphorisch, dass die Digitalisierung – entgegen vieler Unkenrufe – kein Jobkiller ist. Ganz im Gegenteil: Die Produktivität wird angekurbelt, die Effizienz gesteigert und zusätzliche Gewinne generieren neue Jobs. Dass das mitunter als strukturschwache Region deklarierte Berner Oberland da mitmischen will, versteht sich von selbst. Mehr Arbeitsplätze klingt wie ein Lotto-Jackpot.

Wir diskutieren über die Schaffung und Erhaltung von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung und lassen dabei deren eigentlichen Kern aussen vor: Digitalisierung heisst, bestehende Prozesse mit neuen Technologien effizienter und effektiver zu gestalten; idealerweise zu verbessern. Aber was bedeutet Effizienzgewinn? Wir machen entweder dasselbe wie bisher in kürzerer Zeit oder mehr in derselben Zeit. Und was gewinnen wir? Brauchen wir weniger Zeit, bedeutet das mittelfristig, dass wir weniger Personal brauchen. Mit diesem Ansatz Arbeitsplätze zu schaffen, ist eher schwierig. Wollen wir mehr in derselben Zeit machen, müssen wir dieses Mehr auch absetzen.

Kommen wir also mit einem Beispiel ins Berner Oberland: Was gewinnt der Alpkäser mit der Digitalisierung? Wird er effizienter, kann er mehr produzieren. Gibt es dafür einen Absatzmarkt oder sind unsere Käselager schon randvoll? Muss er weniger arbeiten und nimmt dann einen Zweitjob bei einem Technologiekonzern an, bei dem er Dank der ausgezeichneten Infrastruktur von Zuhause das nächste und bessere Windows programmieren kann?

Auch wenn die Digitalisierung unseren Stellenmarkt momentan beflügelt und Chancen für das Berner Oberland bringt, ist ein Realitätscheck nötig: Was, wenn wirklich fast die Hälfte der heutigen Jobs bis 2025 verschwindet – wie das einige düstere Studien prophezeien? Und damit meine ich nicht dezentrale Arbeitsplätze für die hippen Informatiker grosser Firmen, die im Berner Oberland arbeiten, weil es so schön und die Internetverbindung so schnell ist. Was mir im Digitalisierungswahn fehlt – auch und insbesondere im Berner Oberland – ist die längst nötige Diskussion, wie die Digitalisierung unsere Werte und unsere Kultur verändert. Und wie wir mit diesen Entwicklungen umgehen wollen.

Über die Schattenseiten der Digitalisierung spricht man ungern. Bei der Diskussion um schwindende Arbeitsstellen und fehlende Zukunftsperspektiven für ganze Branchen, kommen plötzlich heikle Themen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine Robotersteuer oder eine Reform unseres Bildungssystems auf. Damit gewinnt man im Berner Oberland keinen Blumentopf – erst recht keine Wahlen. Das ist schade, denn ich sehe in der Digitalisierung grosse Chancen für unsere Region. Je mehr der Mensch durch die Maschine ersetzt wird, umso höher wird der Stellenwert derjenigen Arbeiten, die nach wie vor von Menschen ausgeführt werden, weil dort Menschlichkeit gefragt ist. Hier haben wir mit unserem wichtigsten Wirtschaftszweig, dem Tourismus, einen erheblichen Vorteil. Möchten Sie sich in einem Café von einem Roboter bedienen lassen oder eine Bergtour statt mit einem erfahrenen Bergführer mit einer Drohne unternehmen?

Wäre es nach all den Digitalisierungs-Initiativen nicht an der Zeit, dass wir uns die Frage stellen, wie sich das Berner Oberland – gerade in den Zeiten der Digitalisierung – abheben kann? Was können und müssen wir bieten um konkurrenzfähig zu sein?

Dieser Text erschien am Samstag, 11. August 2018 als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 19. August 2018 –  –  in chlütterle & chlöne | läse & schribe

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