Den Grosi-Anker auswerfen

Rund 2000 Kilometer von uns entfernt herrscht Krieg, die Pandemie ist auch nicht so richtig vorbei und falls es langweilig werden sollte, wäre da noch immer die Klimakrise, um die wir uns dringendst mal kümmern sollten. «Mögest Du in interessanten Zeiten leben»: An diesen offenbar aus China stammenden Fluch, die Herkunft ist nicht ganz klar, muss ich derzeit oft denken. In den «Scheibenwelt»-Romanen des genialen Sir Terry Pratchett gilt dieser, neutral betrachtet, harmlose Satz als schlimmste Verwünschung.

In der Tat, wir leben in interessanten Zeiten. Wenn ich aber daran denke, dass Generationen vor uns zwei Weltkriege hautnah miterlebten und in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen lebten, wenn etwa tagtäglich zu wenig Essen auf dem Tisch stand, so ist das doch ein ganz anderes Niveau von «es schwer haben». Grösstenteils spielen wir in der Schweiz «Krise» noch immer auf einem Anfänger-Level. Selbstverständlich, nicht alle leben in einer solch privilegierten Situation. Auch in der schönen Schweiz gibt es Menschen, die jeden Franken umdrehen müssen und die nicht wissen, wie ihr Leben morgen weitergeht. Ich beziehe mich nicht auf die Extreme der Gesellschaft, sondern auf die Mitte, den grösseren Teil der Schweiz. Realistisch betrachtet, dürfen wir noch immer sagen: Es geht uns gut. Die Zeiten sind zwar «interessant» – aber der Fluch liegt für uns wohl weniger im aktuellen Weltgeschehen als in unserer schnelllebigen Zeit.

Ich frage mich, ob «Grosi» diese Haltung auch mit einem Smartphone und Push-Nachrichten beibehalten hätte. Ich glaube schon, denn zu einem gewissen Teil beruhte ihre Einstellung auch auf einer gewissen Sturheit.

Nachrichten – viel zu oft schlechte – prasseln im Sekundentakt auf uns ein. Pandemie und Krieg auf unserem Kontinent haben die Schlagzahl weiter erhöht. Kein Wunder, verliert man da schnell den Überblick. Ich muss diese Tage oft an meine Grossmutter denken: An ihre demütige Haltung gegenüber dem Alltäglichen, Selbstverständlichen und an ihre stoische Ruhe. Als kleines Kind hat mich das oft irritiert. Etwa wenn «Grosi» nach der weihnachtlichen Bescherung das Geschenkpapier fein säuberlich zusammenpackte, um es später wieder glatt zu bügeln und erneut zu verwenden. Oder ihre ruhige Art, wenn es im Alltag zu kleinen oder grossen Katastrophen kam. Wie oft haben wir heimlich geschmunzelt, über die teils schrulligen Eigenschaften vom «Inti-Grosi», all die Mühe, die sie sich machte. Sie sah all die «Strapazen», die sie im Alltag ganz selbstverständlich auf sich nahm, nie als Einschränkung. Es war ihre Art, sie hatte nie was anderes gelernt und war auch im Alter mit komfortabler Lebenssituation nicht bereit, diesbezüglich umzudenken. Meine Grossmutter wusste, dass es nicht immer rund läuft. Dass auf gute Zeiten auch schlechte folgen können. Sie hatte dieses Wissen verinnerlicht. Ich frage mich, ob «Grosi» diese Haltung auch mit einem Smartphone und Push-Nachrichten beibehalten hätte. Ich glaube schon, denn zu einem gewissen Teil beruhte ihre Einstellung auch auf einer gewissen Sturheit.

Wenn mir heute das Weltgeschehen um den Kopf fliegt, so versuche ich an mein «Grosi» zu denken. Ich werfe einen Anker aus und widme mich den Dingen des Alltags mit grösserer Sorgfalt. Das Abendessen kochen oder konzentriert diese Kolumne fertigschreiben. Ein Life-Coach würde das wohl als «im Jetzt» leben bezeichnen und zahlreiche Achtsamkeits-Bücher würden mir an dieser Stelle ebenfalls zu dieser Taktik raten. Für mich ist es mein «Grosi»-Anker, den ich hier und da auswerfe, um die «interessanten Zeiten» einfach mal an mir vorbeiziehen zu lassen.

Dieser Text erschien am Samstag, 2. April 2022, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

Irene Thali –  –  schrieb am 02. April 2022 –  –  in läse & schribe | stogle & stürfle

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