Aufgewacht!

Zeit und Raum scheinen sich während der Festtage, zwischen den Jahren, aufzulösen. Wir Berner, sonst nicht unbedingt mit Feiertagen gesegnet, verharren etwas länger in dieser unstrukturierten Zeit, da uns zusätzlich der Berchtoldstag als Ruhetag gegönnt wurde. Wie es sich gehört, wird an diesem freien Tag, der gemäss Wikipedia «in anderen Kantonen oftmals einen etwas unklaren Status» hat, noch einmal ordentlich gefeiert. Das neue Jahr beginnt auf dem «Bödeli», nach dem längsten Silvester der Schweiz mit Touch the Mountains und der Harderpotschete, also erst am 3. Januar. Während die Tage zu Jahresende und -beginn voller schöner Anlässe waren, aber dennoch ruhig dahinhinplätscherten, und man alles ohne schlechtes Gewissen vor sich herschieben durfte, ist es jetzt an der Zeit, aufzuwachen!

Der Tannenbaum in der Wohnzimmerecke verliert langsam, aber sicher seine Nadeln und der Weihnachtsschmuck glitzert einem grell entgegen. Das eigene Spiegelbild in den Christbaumkugeln ruft nicht mehr die Erinnerung an fröhliche Abende im Kreise der Liebsten hervor, sondern mahnt, dass es an der Zeit wäre, Nahrungsmittel mit einem hohen Gehalt an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen den fett- und kalorienreichen Festtagsspeisen vorzuziehen. Die halbabgebrannten Kerzen des Adventskranzes versprühen längst keine festliche Stimmung mehr und werden einem neuen Zweck zugeführt oder weggeschmissen. Ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass die selbstgebackenen Weihnachtsguetsli in der Silvesternacht umgehend bretthart und ungeniessbar werden. Meine selbstgebackenen «Chräbeli» jedenfalls eignen sich besser als Munition für eine Steinschleuder, denn als Genussmittel. Der Anis-Geschmack ist im alten Jahr geblieben. Selbst «getünkelt» in einem Liter Kaffee oder Tee würde man nach dem ersten Bissen mindestens drei Zähne verlieren.

Am Abend des 3. Januars erinnert nichts mehr an die vergangenen, unbeschwerten Tage und ich bin definitiv wieder im Alltag angekommen.

So leere ich etwas wehmütig die Guetslibüchsen. Die besinnliche Zeit ist vorbei. Meine spärliche Freizeit im Dezember hätte ich wohl besser entspannt auf der Couch als backend in der Küche verbracht. Sowieso, die gastronomischen Höchstleistungen der vergangenen Tage wirken spätestens dann übertrieben, wenn man zum ersten Mal mit klarem Blick den Kühlschrank und die Gefriertruhe öffnet: Hier stapeln sich die – selbstverständlich unbeschrifteten – Tupperdosen mit diversen Essensresten. Immerhin: Der Grosseinkauf zu Jahresbeginn kann vorerst vertagt werden. Auf dem Speiseplan stehen Käseschnitten (Raclette-Reste), Suppen und Überraschungs-Eintöpfe (alles andere). Wenn wir schon dabei sind, wird gleich noch der Backofen gereinigt, der Kühlschrank abgetaut und der ganze Wäscheberg, der sich zwischen den Jahren auf wundersame Weise im «Glettizimmer» aufgetürmt hat, abgearbeitet. Am Abend des 3. Januars erinnert nichts mehr an die vergangenen, unbeschwerten Tage und ich bin definitiv wieder im Alltag angekommen.

Der Kalender ist frisch aufmunitioniert: 365 leere Datumsblätter, die neu beschrieben werden wollen, warten. Da braucht es einiges an Contenance, um nicht gleich wieder in Hektik zu verfallen. Deshalb gönne ich mir erstmal einen Tee und schreibe diese Kolumne fertig – gespannt und neugierig, was uns dieses Jahr alles erwartet (und mit dem einzigen, aber festen Vorsatz, kommenden Dezember wirklich mal weniger Weihnachtsguetsli zu backen).

Dieser Text erschien am Samstag, 7. Januar 2023, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

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