An oder mit?

Mein Medienkonsum ist derzeit exorbitant. Das mag einerseits an den Feiertagen und dem grösseren Zeitbudget liegen und ist andererseits auch dem aktuellen Weltgeschehen geschuldet. Was mich zusehends verstört, ist die Schreibe in der Schweizer Medienlandschaft. Wann – und vor allem warum? – hat man sich in den grössten Medienhäusern des Landes darauf geeinigt, bei Corona-Todesfällen konsequent die Schreibweise, dass die Menschen «an oder mit» dem Virus gestorben sind, anzuwenden? Was soll diese explizite Abwägung? Ist ein Toter, der «mit» Cornona-Virus gestorben ist, beispielsweise weil er unter diversen Vorerkrankungen litt und sich jetzt dummerweise noch angesteckt hat, weniger wert, als eine Person, die, ansonsten kerngesund, «am» Virus starb? Wo liegt der Unterschied, ob jemand «an» oder «mit» etwas gestorben ist? Wer zieht diese unsichtbare Grenze? Und was macht es schlussendlich für einen Unterschied?

Ich vermute, die Schreibweise «am oder mit» Corona-Virus sterben, entspringt dem weitläufig vorhandenen Wunsch von Journalistinnen und Journalisten, eine neutrale Haltung gegenüber der Leserschaft einzunehmen. Es ist der Versuch, die Gräben, die sich derzeit in unserer Gesellschaft auftun, mit einer ausgewogenen Schreibe zu überbrücken. Dank der drei kleinen Wörtchen «an oder mit» holt man Verschwörungs-Schwurbler und Skeptikerinnen mit ins Boot ohne dabei Corona-Besorgte und Lockdown-Verfechterinnen all zu sehr zu erschrecken. Bloss keine Position beziehen, bloss nicht irgendwie durchscheinen lassen, dass man die täglichen Todeszahlen erschreckend findet – oder auch, dass einem der Hype um das Virus gewaltig auf den Zeiger geht. Die Aussage «an oder mit» dem Corona-Virus sterben, verschleiert zwar die Haltung des Schreibenden und des Mediums, neutral ist sie deswegen aber noch lange nicht – im Gegenteil.

Die Aussage, dass jemand «mit» oder «am» Virus gestorben ist, impliziert, dass wir die Corona-Toten unterschiedlich zu gewichten haben. Es wird suggeriert, dass es zwei verschiedene Todesarten gibt: Das natürliche Sterben «mit» dem Virus und das schlimme Sterben «am» Virus. Die 93-jährige Seniorin im Pflegeheim hat nun «mit» dem Corona-Virus einfach etwas früher die Welt verlassen. Ihr Tod wäre demnächst sowieso in irgendeiner Todesfall-Statistik aufgetaucht. Why care? Der 42-jährige Familienvater ohne Vorerkrankungen aber ging «am» Corona-Virus zugrunde. Seinem Tod kommt in der täglichen Corona-Todesfallstatistik die grössere Bedeutung zu. Einige von uns dürfen nach einem erfüllten Leben friedvoll und im Kreis ihrer Liebsten einschlafen. Andere werden viel zu früh durch einen Unfall oder eine Krankheit mitten aus dem Leben gerissen. Beim Sterben gibt es kein «richtig» oder «falsch», keine Unterscheidung irgendwelcher Art, der Tod ereilt uns alle. Auch wenn der Corona-Leugner sich mit der Aussage, dass Personen «mit oder am» Virus sterben, vermutlich besser abgeholt fühlt, als mit einer blanken Zahl, ist diese Schreibe weit entfernt von einer neutralen Position.

Die Aussage, dass jemand «mit» dem Corona-Virus stirbt, ist ja nicht per se falsch. Physiologisch gesehen gibt es fünf Haupttodesarten: Herz-, Hirn-, Lungen-, Leber- und Nierentod. In den meisten Fällen führt das Versagen eines oder mehrerer der Hauptorgane zum Tod eines Menschen. Das Virus beschleunigt diese Prozesse – aber auch andere Krankheiten oder schlicht und ergreifend das Alter und die Konstitution eines Menschen beeinflussen unsere Sterblichkeit. Wenn wir also «mit» dem Virus sterben, müssten wir konsequenterweise auch bei anderen Todesursachen «mit» diesen von der Welt gehen. Eine krebskranke Person stirbt schlussendlich an den Schädigungen der Hauptorgane, die die Krankheit in Mitleidenschaft zieht. Drogenabhängige sterben mit der Überdosis, dass das in den meisten Fällen ein Lebertod war und der Körper nicht mehr fähig war, alle Giftstoffe rechtzeitig abzutransportieren, steht in keinem Zeitungsartikel. Oder noch plakativer: Ein Opfer eines Attentates stirbt, weil ihm das Gehirn weggeballert wurde – dies schlicht als Hirntod zu bezeichnen, käme aber wohl keinem vernünftigen Journalisten in den Sinn. Diese Unterscheidung in der täglichen Corona-Berichterstattung ist also nicht nur nicht neutral, sondern auch in höchstem Masse inkonsequent.

Durch den Zusatz «an oder mit» verlieren die täglichen Todeszahlen an Gewicht. Das ist nicht sinnvoll. Die Todeszahlen – wie auch die Fallzahlen – sind für unser Land viel zu hoch. Wenn wir uns baldmöglichst ein «normales» Leben wünschen, müssen die Zahlen massiv sinken – egal ob nun ein Impfstoff vorhanden ist oder nicht.

Nachtrag, 2.1.2021

Ich stelle mit Genugtuung fest, dass sich in der Schweiz wieder viele Medienhäuser von «an oder mit» verabschiedet haben. Auf Twitter bin ich noch über folgende Aussage gestolpert, die ist so naheliegend und fasst die Problematik perfekt zusammen. Der Aspekt fehlt in meinem Text, bringt aber alles auf den Punkt. «An oder mit» dem Virus sterben – just don't do it.

Hesch öppis z'mälde?



© Irene Thali | Interlaken | Realisation: fremdefeder.ch