Hier will ich nicht mehr weg. Ich könnte auf ewige Zeiten sitzen bleiben, das Leuchten der goldenen Abendsonne im Gesicht. Ich lasse meinen Blick über den schier endlosen Sandstrand schweifen, höre das Kreischen der Möwen und geniesse den salzigen Geruch des Wattenmeers in meiner Nase. «Life is better at the beach», steht auf einem shabby-chic Holzschild über dem Tresen im «Faro2», dem Strandpavillon gleich neben dem Leuchtturm, in welchem wir unseren zweitletzen Ferienabend verbringen. Ich weiss nicht, ob es die Magie des Strandes ist, welche mich genau jetzt zur Einsicht bringt, dass das Leben hier um Welten besser sein könnte als zu Hause. Vielleicht sind es auch die Sonnenuntergänge auf der Insel Texel, der grössten holländischen Insel. Hier geht die Sonne nicht einfach unter, nein, sie fällt ins Meer. Und das rot-gold-orange Farbenspektakel ist kaum zu beschreiben. Und erst der Leuchtturm, der in der Nähe von De Cocksdorp, an der Nordspitze der Insel steht. Es gibt für mich keinen schöneren Leuchtturm. In sattem Rot thront er majestätisch über der ganzen Insel – und seine markante Farbgebung wird noch eindrücklicher, wenn hinter ihm die Sonne ins Meer fällt. Aber würde das nicht langweilig werden, wenn ich dieses Spektakel jeden Abend erleben könnte? Würden sich nicht nach einer gewissen Zeit «Abnutzungserscheinungen» einstellen – wie bei Eiger, Mönch und Jungfrau im Abendrot? Natürlich berührt mich diese Aussicht nach wie vor sehr, sie scheint aber an Imposanz zu verlieren, wenn man vom Bürofenster aus tatgtäglich das fabelhafte Schauspiel geniessen kann (und das dennoch viel zu selten tut).
Es gibt für mich keinen schöneren Leuchtturm. In sattem Rot thront er majestätisch über der ganzen Insel – und seine markante Farbgebung wird noch eindrücklicher, wenn hinter ihm die Sonne ins Meer fällt.
Woher also das plötzliche Bedürfnis, all meine Zelte in meiner Heimat abzubrechen und auf eine Insel in den Niederlanden zu fliehen? Es beschleicht mich das Gefühl, dass die Magie dieser Ferien vielleicht nicht ganz so stark mit den wunderschönen Sonnenuntergängen, dem Wind über den Dünen und den malerischen Polderlandschaften Nordhollands verbunden ist, als ich mir eingestehe. Das Mobiltelefon im «nicht stören» Modus, der keine neuen Benachrichtigungen anzeigt, auch wenn zehn Leute angerufen und 20 noch eine SMS obendrauf geschickt haben, trägt sicher einiges zur derzeitigen Leichtigkeit des Seins bei. Auch der Blick auf das Mail-Icon auf dem Smartphone verheisst keinen zusätzlichen Stress: Die geschäftlichen Posteingänge habe ich vorsorglich, bei der Überfahrt auf die Insel, vom Telefon gelöscht. Was mir anfänglich noch schwer fiel, ist inzwischen ein Automatismus: Wenn ich länger als ein Wochenende nicht erreichbar bin oder sein will, wird der Account von allen aktiven Geräten gelöscht. So entsteht auch nicht das plötzliche Bedürfnis, während einer «langweiligen» Phase doch noch geschäfliche Mails zu beantworten. Das ist für einige Mailschreibende zwar schwer verständlich, aber wer lesen kann, ist auch hier klar im Vorteil: In meiner Abwesenheitsnotiz steht, hence the name, dass ich abwesend bin.
Ich bin, entgegen gefühlt durchaus ernsten Intentionen mein Leben im holländischen Insel-Exil fortzusetzen, rechtzeitig aus meinen Ferien in die Heimat und den Alltag zurückgekehrt. Was von den sehr entspannten Inseltagen bleibt, sind wunderschöne Erinnerungen und die Freude über entspannte zwei Wochen mit zahlreichen langen Fahrradtouren, feinem Essen und atemberaubenden Sonnenuntergängen am Strand. Bis zur nächsten Flucht – so habe ich es mir vorgenommen – schalte ich ab und zu alle Benachrichtigungen an den diversen technischen Geräten, die mich umgeben, aus, und geniesse den ablenkunsfreien Blick auf die heimische Bergwelt aus meinem Bürofenster dafür umso mehr.
Dieser Text erschien am Samstag, 11. Juni 2022, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt