2022: hobby- und lösungslos

124 Tage dauert dieses Jahr noch. 124 Tage sind 10'713'600 Sekunden. Oder 178'560 Minuten. Schwer vorstellbar. Bei 2'976 Stunden wird es bereits etwas konkreter. 17 Wochen und 5 Tage: Da kommt unser Zeitgefühl langsam mit. Ich habe mich in letzter Zeit öfter dabei ertappt, Tage zu zählen. Tage bis zu bestimmten Ereignissen, Meilensteinen oder Daten, gefüllt mit Terminen, die ich lieber schon längst hinter mich gebracht hätte. Dabei fällt mir immer mal wieder auf, wie ich mir wünsche, dass dieses 2022 doch schon vorbei sein möge. Warum eigentlich?

2022 ist zwar anstrengend, auf vielen Ebenen, aber ich habe bei weiterem schon «schlimmere» Jahre erlebt. Das aktuelle Jahr dümpelt einfach so vor sich hin. 2022 ist hobbylos, jedenfalls was mein Alltagsleben betrifft. Blicke ich jedoch in die Welt, stelle ich fest, dass sich die Ereignisse nur so überschlagen. Ich – der absolute Medienjunkie – habe meinen Medienkonsum seit ein paar Wochen aus Selbstschutz drastisch reduziert. Der Twitter-Account ist stillgelegt und Facebook fehlt schon seit fast einem Jahr in meiner App-Sammlung. Bei Instagram kann ich nur reinschauen, weil ich mir die Zeit genommen habe, den Algorithmus so auszutricksen, dass er mir nur noch Videos von Eselbabys, Quokkas oder Chinchillas anzeigt.

Zum Nachtisch brauche ich keinen neuen Klimabericht, der mir nachts den Schlaf raubt, wenn ich daran denke, wie es wohl so sein wird, im fortgeschrittenen Alter und bei einer Aussentemperatur von 50 Grad Celsius auf einer Kühlmatte und betreut von einem Pflegeroboter meinen Lebensabend im Heim zu verbringen.

Ich bin übersättigt von den sich stets wieder aufs neue übertrumpfenden Bad News und die immer wieder ob neuen Banalitäten aufschäumenden Empörungswellen bringen mich zur Verzweiflung. Ich mag an meinem Feierabend nicht mehr über richtigen oder falschen Feminismus nachdenken, meine Gedanken um «cultural appropriation» kreisen lassen oder durch die neusten Schreckensbilder aus der Ukraine scrollen. Zum Nachtisch brauche ich keinen neuen Klimabericht, der mir nachts den Schlaf raubt, wenn ich daran denke, wie es wohl so sein wird, im fortgeschrittenen Alter und bei einer Aussentemperatur von 50 Grad Celsius auf einer Kühlmatte und betreut von einem Pflegeroboter meinen Lebensabend im Heim zu verbringen. Trumps Fehltritte, Putins Drohungen oder die wirren Kommunikationsgebaren unserer Landesregierung: Ich empfinde das alles als absurd – nicht zuletzt durch die sich stets steigernde Kadenz der Newsmeldungen und deren Klickoptimierung. Wenn ich darüber nachdenke, welchen Herausforderungen die Menschheit gegenübersteht und wie wenig Lösungen, Lichtblicke oder auch nur Lösungswille für die Zukunft derzeit sichtbar sind, muss ich mir eingestehen, dass ein neuer Kalender mit einer neuen Jahrzahl wohl nicht das Zeug zum alleinigen, stark herbeigesehnten Heilsbringer hat.

Nicht nur mein Alltag dümpelt 2022 so vor sich hin, auch wenn es um die Lösung der aktuellen Krisen geht: Dümpeln allenthalben. Die Antriebslosigkeit, die fehlenden oder halbpatzigen Lösungen, das Verharren in zurzeit noch halbwegs bequemen Situationen – das alles steht einem immer grösseren Berg an Problemen gegenüber. Die lähmende Aussichtslosigkeit der Weltlage schleicht sich in mein Leben, auch wenn ich versuche, Türen und Fenster zu schliessen, indem ich die Push-Mitteilungen auf meinem Handy deaktiviere. Ich bin mir bewusst, dass die Vogel-Strauss-Taktik auf lange Sicht keine Lösung sein wird. Dazu finde ich alles, was momentan auf der Welt geschieht, zu schlimm und ich kann und will mich nicht allem verschliessen. Was ich aber kann, und auch tue, ist mir eine Pause von dieser Lösungslosigkeit gönnen, denn ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, dass in diesem lösungsleeren Raum Platz für neue Lösungen entsteht.

Dieser Text erschien am Samstag, 20. August 2022, als Kolumne im Berner Oberländer / Thuner Tagblatt.

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